Expertenbeitrag

Kommunikative Zeitenwende: Narrative und Diskurse im Krieg

Es gibt wieder einen Krieg – mitten in Europa. Russland hat völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen – und das bedeutet nicht nur eine Zäsur für die politische Ordnung, sondern auch für die Geschichten, die wir nun 30 Jahre lang erzählt haben: der lupenreine Freund im Osten, der Hirntod der NATO, das Verbot von Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete, nicht zuletzt die beinahe schon selbstgefällige Zufriedenheit mit einer zugrunde gerüsteten deutschen Armee – kein Raum mehr dafür, diese Narrative wurden wie ein Federstrich von der Landkarte hinweggefegt, und das innerhalb weniger Tage.

Was normalerweise Jahre braucht, um sich zu ändern, nämlich gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster zu etablieren, Deutungshoheit zu erringen, Glaubwürdigkeit nachhaltig aufzubauen, Bedeutungsverschiebungen bestehender Denkstrukturen zu versuchen oder aus den Zeitläufen mitzunehmen, ist nun quasi "über Nacht" erfolgt. Wie ist das zu erklären?

 

  • Das Narrativ der Friedensdividende war schon lange bröcklig: Spätestens seit der – bereits nach einhelliger Meinung – völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014, allerspätestens seit Beginn von Chinas offenen Muskelspielen im pazifischen Ozean musste klar sein, dass es ein friedliches, kapitalistisches und demokratisches "Ende der Geschichte" so schnell nicht geben würde. Stattdessen wurde die Ära der hybriden Kriegsführung eingeläutet: Kommunikation – in undemokratischen, unfreien Staaten besser als Manipulation beziehungsweise Propaganda zu bezeichnen – rückt (erneut) in den Mittelpunkt strategischen Denkens und Handelns.
  • Kommunikation – "Herr" der Geschichte zu sein – bedeutet reale Schlagkraft und präventiven Raumgewinn: Alles kann gesagt werden, so lange es anschlussfähig ist, also erfolgreich weiterkommuniziert werden kann. Die beste Geschichte, die glaubwürdigste – und sei es mit Hilfe falscher Bilder – gewinnt. Dabei sind dem demokratischen System Zweifel (glücklicherweise) inhärent: Die freie Welt kennt Grenzen, setzt sich selbst Regeln – und befolgt diese. Umgekehrt genügt es daher aber leider auch, kommunikative Zweifel an diesen Grenzen und Regeln zu säen – eine von Russland perfektionierte Strategie. Russia Today, Sputnik und Co. nutzen die Vervielfältigungsmaschinerie des Internets, um subversiv auszuhöhlen, wofür "der Westen" steht. Und der Fehler des Westens war, diese Manipulation zu lange nicht als das zu erkennen, was sie ist: ein steter Tropfen, der selbst den solidesten Stein irgendwann höhlt. Wir waren zu satt, zu unaufmerksam, dachten, unsere Probleme erledigten sich aufgrund systemischer Überlegenheit "von allein". Kommunikation erschien so lapidar, seit es vorgeblich keinen "wirklichen" Krieg mehr gab. Das ändert sich gerade. Die Landnahme im Kommunikationsraum, die dem heißen Krieg voranging, wird endlich als das gesehen, was sie ist: die Vorbereitung eines Angriffsszenarios durch die Projektion von kommunikativer Macht.
  • Putin versteht unsere Diskursmuster nicht – das ist unsere Chance. Denn "Nie wieder Krieg!" meint etwas anderes als "Pazifismus um jeden Preis". Die Narrative der letzten Wochen über die Möglichkeiten, Putin mit Worten und Gesten entgegenzukommen, ihn "sein Gesicht" nicht verlieren zu lassen, auf seine gesäten Zweifel im Hinblick auf die Zugehörigkeit ukrainischer Gebiete im Sinne einer aufklärerischen Dialektik einzugehen, das "sowohl als auch" im Medienraum zu diskutieren – er versteht es als Schwäche, nicht als Stärke eines demokratischen Diskurses, der auch Feinde nie mundtot macht, sondern immer auf die nächste Diskussion gefasst, auf das Revidieren von einmal getroffenen Entscheidungen vorbereitet ist. Dass die Macht der Kommunikation genau darin liegt, nämlich in ihrer Ambiguität, hat er nicht verstanden. Ihm ist entgangen, dass der Kommunikationsraum keinen Griff nach der Landkarte toleriert, keinen brute force-Angriff mit Hilfe einer enthemmten Social Media-Attacke, wo Lügen nicht einmal mehr hinter Zweideutigkeiten versteckt werden. Denn erfolgreich ist Hacking-Kommunikation nur so lange, wie Sein und Schein nicht zu sehr auseinandergehen, Kongruenz von realem Geschehen und der Kommunikation darüber darf nicht zu sehr verloren gehen. Ihm ist entgangen, dass auch Toleranz diese Grenzen kennt, auch ein offenes System sich gegen systemzersetzende Kräfte irgendwann wehren wird.
  • Die gute Nachricht ist darum: Unsere Diskurse, unser demokratischer Medienraum funktionieren genauso, wie sie sollen, wenn es darauf ankommt. Die Rolle der NATO wird neu diskutiert, ja ist vielleicht nicht einmal mehr zu diskutieren. Die Bundeswehr erfährt eine neubegründete Wertschätzung und die entsprechend notwendige Alimentierung – seit Jahren überfällig. Das transatlantische Bündnis erinnert sich wieder an seine Wurzeln, im Grunde müssen nur alte Freund-Feind-Schemata aus dem Kalten Krieg neu belebt werden. Denn auch diese sind ja alle noch da, wenn auch nur in den Köpfen, damit aber auch in den Gedanken und damit Sprachmustern derjenigen, die jetzt an den Hebeln der Macht des Westens sitzen. Die Landnahme Putins – zuerst im Kommunikations-, nun leider darüber hinaus im realen Raum – aktiviert deaktivierte Deutungsrahmen, die innerhalb kürzester Zeit als strategische Waffe im Kommunikationsraum benutzt werden können. So wird mehr als deutlich, dass wir sowohl die Frühaufklärung als auch die Abschreckung im Diskursraum genauso, wenn nicht ernster nehmen müssen als bisher, damit Kommunikation als Abschreckungs- sowie als Defensivwaffe ihre volle strategische (nicht-letale) Macht entfalten kann.

 

Am Ende ist Putin seinen eigenen Narrativen aufgesessen; er glaubt seine eigenen Lügen.

 

Aber: Die dreiste Lüge, die Inkongruenz von Realität und dem Sprechen darüber; das Ausschalten der Dialektik des Zweifels; ein schnell und gewaltsam herbeigeführter Paradigm-Shift; die unbeabsichtigte Aktivierung (k)alter Deutungsrahmen und Narrative – die Nichtbeachtung unserer Diskursregeln, sie arbeitet tatsächlich gegen, nicht für Putin. Er hat die Toleranzen unserer Diskursräume überschätzt – es ist nicht alles möglich, wir machen uns nicht die Welt, wie sie uns gefällt für Frieden um jeden Preis. Aus unserer dialektischen Defensivhaltung wird ein Moment in der Geschichte, in der die Ambiguität aufgehoben wird; es gibt nur noch eine Deutung, und das ist die eines Russland als Aggressor, die wir sogar willens sind, kommunikativ-strategisch zu propagieren. Oberstes Ziel des Westens müsste es daher sein, die eigene Sichtweise auf die russische Bevölkerung zu projizieren, damit auch diese eine Wahl hat; dies Kollektiven wie Anonymous zu überlassen, wird der gesamtstaatlichen Verantwortung einer Machtantwort auf sicherheitspolitische Herausforderungen auch im Diskursraum nicht gerecht.

 

Das bedeutet nicht – und darin liegt die Stärke des Westens –, dass wir nicht trotzdem noch Russland achten, seine Stimme, seine Interessen hören könnten – diskursive demokratische Kommunikation ist nicht eindimensional, will nicht mundtot machen, sondern überzeugen, ist auf den Ausgleich bedacht. Aber es bedeutet, dass wir rote Linien gerade im Diskursraum als das kennzeichnen, was sie sind: Grenzverletzungen, die wir nicht hinnehmen werden.

 

Über die Autorin

Prof. Dr. habil. Natascha Zowislo-Grünewald ist Professorin für Unternehmenskommunikation an der Universität der Bundeswehr. Ihre Forschungsthemen umfassen insbesondere Kommunikationsmanagement, Sicherheitspolitik und Organisationskommunikation.

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