Expertenbeitrag

Mastodon: Ernstzunehmende Twitter-Alternative?

Der Chaos-Milliardär Elon Musk zwingt viele zu einem Blick über den Twitterrand hinaus – wo es durchaus Alternativen gibt.

Geniestreich oder Größenwahn – neuer Anlauf oder Amoklauf? Was Elon Musk in den letzten Wochen auf und mit Twitter veranstaltet, ist im Moment noch schwer abschließend zu bewerten. Angesichts explodierender Desinformation und Hassrede nach Massenentlassungen und Einschränkungen von Moderation und Verifikation, sind Sorgen aber durchaus berechtigt, ob die besten Tage der zwitschernden Plattform bereits hinter uns liegen.

Totgesagte leben zwar länger. Inzwischen hat jedoch ein beachtlicher Exodus eingesetzt: Laut Schätzungen haben bereits rund eine Million Nutzer Twitter verlassen, während viele weitere sich nach einer Alternative umsehen und zunächst testweise neue Accounts anlegen. Auch ich – üblicherweise kein Technologiepionier – gehöre dazu.

 

Meine Wahl: „Mastodon.“

Meine Freunde: „???“

Meine Erfahrung: „Läuft erstmal.“

 

Mastodon ist Plattformen wie Twitter aus Sicht eines Nutzers in Sachen Grundlogik, Aufbau und Funktionsweise zunächst einmal sehr ähnlich. Man setzt Posts ab, kennzeichnet Stichwörter mit suchbaren Hashtags und kann andere Nutzer verlinken sowie deren Posts liken und „rebloggen“.

Eine Ebene tiefer wird es allerdings interessant: Mastodon ist eine gemeinnützige GmbH und besteht aus verschiedenen, interagierenden Servern, die in Sachen grundsätzlicher thematischer Ausrichtung und – über ein paar sehr vernünftige Grundregeln hinaus – auch Moderation autonom agieren. Der Gipfel ist jedoch, dass Mastodon werbefrei ist, Open-Source Software verwendet und keinerlei Nutzertracking vornimmt. Let that sink in.

Dem twittergewöhnten Neunutzer fällt all dies zunächst einmal in der Timeline auf, in der nicht mehr ein unheimlicher Schattenfürst namens Algorithmus regiert und entscheidet, was man sieht und was verborgen bleibt, getrieben von nur einem Ziel: die Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform zu halten.

Stattdessen bekommt der Mastodaner die Posts der gefolgten Accounts einfach in zeitlicher Abfolge vorgelegt. Eine für den vielgeplagten Nutzer im Jahr 2022 doch recht ungewohnte Einfachheit und Transparenz.

 

Gleichzeitig kann man sich auf dem eigenen Server umsehen, auf welchem man seinen Account zunächst geparkt hat. Hier gibt es sowohl thematische als auch lokale Möglichkeiten, zum Beispiel für Journalisten oder "Kremlinologen" oder für Leute in Berlin, Freiburg, Amsterdam,…. Die so nochmal separat abrufbare Timeline ist ein Stück weit Goldmine, mit doch einigen sehr interessanten Nuggets, die man sonst vielleicht übersehen hätte.

Aber genug des Lobes. Selbstverständlich bemerkt man ebenfalls recht schnell, was sich Armeen von Entwicklern bei Twitter über die Jahre für Annehmlichkeiten einfallen ließen, die Mastodon fehlen. Dazu gehört eine ziemlich schwierige Suchfunktion, keine Möglichkeit der Bildbearbeitung und – was mir am wichtigsten erscheint – keine Entwurf-Funktion.

Letzteres führt dann dazu, dass ich als Nutzer beispielsweise tagelang nichts poste, um dann an einem Nachmittag auf einmal ein Duzend Artikel zu teilen, weil ich eben gerade zum Lesen im Café sitze. Das wiederum flutet dann die Timeline der Follower – während man mit gespeicherten Entwürfen viel schöner dosieren und steuern kann. Gerade da es aufgrund der chronologischen Timeline besonders wichtig ist, zu welchen Zeiten die Community online ist.

Zuletzt aber bemerkt man auf Mastodon auch schnell einen der großen Trends der globalen Onlinewelt: die Zersplitterung. Denn während man auf Facebook und Twitter jahrelang eine Vielzahl von Diskursen finden und verfolgen konnte, scheinen sich nun einzelne, isolierte soziale Netzwerke herauszubilden.

Wem Datenschutz wichtig ist geht zu Mastodon, junge Leute sind hauptsächlich (oder nur noch) bei Instagram und TikTok. Snapchat macht weiß Gott was, während sich manche Communities aus Osteuropa – für die ich mich beispielsweise sehr interessiere – oft nur noch auf dem russischen Netzwerk VKontakte oder Telegram zu finden sind.

Und wer masochistisch genug veranlagt ist, hier und da auch mal die Diskurse rechts außen zu checken, muss nun in Richtung gab.ai oder TruthSocial blicken.

All dies ist sicherlich eine gesunde Gegenreaktion, angesichts der massiven und gruseligen Zentralisierung rund um Meta und Google über die letzten Jahre. Der Diskursraum zerfällt jedoch mehr und mehr und ein Querlesen auf einer Plattform wird schwieriger. Gerade das hat in den letzten Jahren den Charme von Twitter für mich ausgemacht.

Um ein Fazit zu versuchen: Mastodon macht vieles richtig, gerade weil es so un-Musk-ig ist. Ein paar Features müssten allerdings noch etwas geschliffen werden, um dem verwöhnten Nutzer von heute zu genügen. Dann besteht durchaus Hoffnung, dass sich die aktuelle Nutzermigration noch verstärkt und auch einige andere Internetgrößen bemerken, dass soziale Netzwerke nach dem Prinzip manipulativer Datenkraken nicht mehr zukunftsfähig sind.

 

Über den Autor

Toni Michel (zum Mastodon-Account) arbeitet seit 2021 als Referent für West- und Südeuropa in der Europäischen und Internationalen Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor arbeitete er für die Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine. Er studierte im Bachelor European Studies in Passau und wechselte für sein Masterstudium in Politics and Economics in Eurasia an die MGIMO-Universität in Moskau.

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