Rita Schorpp/KAS e.V.

Organisiertes Alltagsleben und Massenorganisationen

Sehr hohe Priorität besaß die Förderung des „organisiertes gesellschaftliches Lebens“. Es galt die Losung: „Jeden gewinnen, keinen zurücklassen!“

Wo immer sich ein Organisator fand, bildeten DDR-Bürger – zumindest pro forma – sozialistische Hausgemeinschaften in Wohnblocks und Siedlungen oder sozialistische Dorfgemeinschaften. SED-Medien und Transparente verkündeten: „Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!“ In freiwilligen, unbezahlten Arbeitseinsätzen (Subbotniks) übernahmen Familien gewöhnlich zweimal im Jahr die Aufgaben der Stadtreinigung in ihrem Wohnumfeld, reparierten und pflanzten. Man feierte Hausgemeinschaftsfeste mit selbstgebackenem Pflaumenkuchen und Rostbratwürsten oder Buletten und gestaltete Kinderfeste. Wandzeitungen kündeten vom sozialistischen Wettbewerb im Wohngebiet. Manche waren liebevoll gestaltet, andere hingen gewissermaßen als Karikatur ihrer selbst in Treppenaufgängen verfallender Mietshäuser, in denen der Putz von den Wänden bröckelte.

Erklärtes Ziel der SED war es, jeden zu einer kollektiv denkenden und handelnden „sozialistischen Persönlichkeit“ zu „formen“. Dieser Prozess begann im Kindergarten mit dem einheitlichen Bildungs- und Erziehungsplan „Gesellschaftliches Leben“ (Lernziel u. a.: „Liebe und Zuneigung zu den bewaffneten Organen wecken“) und setzte sich über die Schule bis zum sozialistischen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Betriebe fort.

Abb.: V. Festival der Freundschaft DDR-UdSSR in Karl-Marx-Stadt (1980, ©Bundesarchiv, Bild 183-W0527-0113 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE)

Für die 2,3 Millionen SED-Genossen obligatorisch waren wöchentliche Parteigruppenversammlungen und regelmäßige sogenannte „Parteilehrjahre“. Erwartet wurde außerdem ihre Mitgliedschaft in den paramilitärischen sozialistischen Betriebskampfgruppen.

Angesichts der immer sichtbarer werdenden Systemkrise (Biermann-Ausbürgerung 1976, Solidarność und Kriegsrecht in Polen 1981 …) wurden verstärkt propagandistische Presseschauen für alle Arbeitskollektive angeordnet. Die Beschäftigten sahen darin meist verlorene Zeit – verloren für die Erfüllung der Arbeitsaufgaben und Normen.

Ein im Betriebsalltag allgegenwärtiges Instrument zur Stärkung des Kollektivgeistes stellte der „sozialistische Brigadewettbewerb“ dar. Dabei handelte es sich um einen Wettstreit um die Übererfüllung des Plans – auch in Sonderschichten oder unbezahlten „Subbotniks“ –, der in den Wandzeitungen ebenso angekündigt wurde wie kulturelle Aktivitäten. Die zusätzlichen Anstrengungen wurden in Brigadetagebüchern – oft zeitaufwendig – dokumentiert, und als Belohnung lockten Kollektivprämien und der Titel „sozialistische Brigade“. Die Aktivsten bei der Planerfüllung und in der gesellschaftlichen Arbeit wurden am 1. Mai („Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse“) oder am 7. Oktober („Tag der Republik“) mit einer Urkunde, einem Abzeichen und einer Geldprämie (100 bis 200 Mark) geehrt. Zudem gab es spezielle „Ehrentage“ für Berufsgruppen, z.B. den „Tag der Lehrer“.

Obligatorisch zum 1. Mai und zum 7. Oktober fanden „Kampfdemonstrationen der Werktätigen“ mit Schalmaienkapellen und zahllosen „Trageelementen“ statt, auf denen „noch größere Erfolge“, die „internationale Solidarität“ und der Sozialismus beschworen wurden. Wer konnte, vermied es, als Träger eingeteilt zu werden – auch um nach der Anwesenheitskontrolle leichter verschwinden zu können. Zudem hatten Fackelzüge, inszenierte Großdemonstrationen und Militärparaden für Außenstehende häufig eine fatale Ähnlichkeit mit denen in der vorangegangenen deutschen Diktatur.

Abb.: Nach dem Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin (1989, ©Bundesstiftung Aufarbeitung, Ostkreuz, Harald Hauswald, Bild 890603hh01)

Um auf die Freizeit-, Ferien- und Urlaubsgestaltung direkten Einfluss zu nehmen, unterhielt die SED ein breit gefächertes Netz an Massenorganisationen. Jeder, vom Erstklässler in der Pionierorganisation bis zum Rentner in der Volkssolidarität, war angehalten, in mindestens einer Organisation Mitglied zu sein, und damit ideologischer Beeinflussung und Kontrolle ausgesetzt. Eine fast hundertprozentige Mitgliedschaft verzeichneten:

  • die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ mit Pioniernachmittagen und Pionierlagern (Klassenstufe 1 bis 8);
  • die zentrale Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) als „Kaderreserve der Partei“ (ab Klassenstufe 8) mit „Jugendweihe“ (97 Prozent aller 14-Jährigen), regelmäßigem politischem FDJ-Lehrjahr als Pflichtveranstaltung, mit Jugendklubs und gern besuchten Jugenddiskos, mit der FDJ-Singebewegung als Pedant zur „westlich-dekadenten“ Beat- und Rock-Kultur und mit Jugendfestivals;
  • der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) mit Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL), die in erster Linie für die Vergabe von Ferienplätzen zuständig waren (wobei die Ostsee- und die seltenen Austauschplätze im sozialistischen Ausland als Auszeichnung galten), aber auch für die Schlichtung von Konflikten zwischen den Beschäftigten und der Betriebsleitung. Lohnerhöhungen zu fordern oder gar Streiks zu organisieren war der Einheitsgewerkschaft jedoch verboten.

Gern genutzt wurden auch die breit gefächerten Freizeitangebote des „Kulturbundes der DDR“ von der Philatelie bis zum „Volkskunstschaffen“. Jüngere lockte die vormilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) mit Modellbau und Geländespielen, mit Segelfliegen, Fallschirmspringen, Tauchen und besonders der Fahrerlaubnis. Ihr Ziel: Werbung für eine militärische Laufbahn.

Abb.: FDJ-Singegruppe (1975, © Deutsche Fotothek‎ / CC BY-SA 3.0 DE)

Die Betriebe waren zur Förderung der sozialistisch-kulturellen Freizeitgestaltung und zur Zusammenarbeit mit allen Massenorganisationen verpflichtet. Auf eigene Kosten hatten sie Betriebskulturhäuser, Betriebsbibliotheken und Betriebssportstätten zu errichten und zu betreiben. Im sozialen Bereich waren sie verantwortlich für die Unterhaltung von Betriebskinderkrippen (ab dem dritten Lebensmonat) und Kindergärten zur Gewährleistung einer hohen Quote an Frauenarbeit (auch im Schichtbetrieb) sowie von Betriebspolikliniken, Betriebsferienlagern und betrieblichen Ferienheimen.

Hinter all dem stand die Idee, einen sozialistischen Typus des „neuen Menschen“ zu erschaffen, der im Arbeitskollektiv und in kollektiver Freizeitgestaltung seine Erfüllung finden sollte. Tatsächlich wurden die vielfältigen Angebote von der Sportgemeinschaft bis zum organisierten Single-Treff durchaus angenommen – teils jedoch auch, um sich nicht auszugrenzen oder um der allgegenwärtigen Tristesse auf Zeit zu entfliehen.