Rita Schorpp/KAS e.V.

Die Einheit der Nation als bleibende politische Aufgabe

Die seit Oktober 1982 amtierende neue Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl betonte nicht nur demonstrativ die strikte Westbindung ihrer Außenpolitik, sondern auch die Offenheit der deutschen Frage und die grundsätzlichen Gegensätze der politischen Systeme in beiden deutschen Staaten. Sie entwickelte die innerdeutschen Beziehungen ohne Preisgabe deutschlandpolitischer Grundsatzpositionen mit dem Ziel weiter, spürbare menschliche Erleichterungen und verbesserte Kontaktmöglichkeiten im geteilten Deutschland zu erwirken.

 

Zu dieser veränderten Sichtweise war die CDU/CSU in den 70er Jahren aufgrund ihrer deutschlandpolitischen Zielperspektive gelangt. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands wurde als langfristiger, der Tagespolitik enthobener Prozess betrachtet. Das Selbstbestimmungsrecht spielte dabei für die Unionsparteien eine zentrale Rolle: als Freiheit der individuellen und als Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung. Damit waren die Prinzipien der Politik Konrad Adenauers bestätigt: Die Freiheit hatte den Vorrang vor der Einheit.

Abb.: Helmut Kohl und seine Familie in Leipzig (1975, © Bundesarchiv, Bild 183-P0819-306 / Raphael (verehel. Grubitzsch), Waltraud / CC-BY-SA 3.0)

Der Begriff der Nation wurde nicht mehr ausschließlich an die staatliche Ordnung der Nation gebunden, sondern erweitert. Das Bewusstsein gemeinsamer Herkunft, Kultur und Sprache und damit der Zusammengehörigkeit sowie ein Kanon demokratischer Werte und der Wille, eine Nation zu sein, spielten nun eine entscheidende Rolle. Im Rahmen einer europäischen Friedensordnung, die eine Überwindung der Teilung Europas voraussetzte, sollte die deutsche Frage eine Lösung erfahren. Ob dies die staatliche Einheit Deutschlands nach sich ziehen würde, blieb dabei offen und konnte dem Gang der Geschichte überlassen werden.

Wichtiger als Territorien zu vereinen war es, Fortschritte im humanitären Bereich zu machen, die Freizügigkeit im innerdeutschen Reiseverkehr zu erweitern, den trennenden Charakter der Grenzen zu überwinden und die Folgen der Teilung für die Menschen weniger unerträglich zu gestalten. Um dieses Ziel nicht zu gefährden, musste die innerdeutsche Kooperation fortgesetzt werden. An der Grenze wurden die Selbstschussanlagen demontiert, der Mindestumtausch wurde (wenn auch geringfügig) gesenkt, und es wurden Verhandlungen über die Sicherheit kerntechnischer Anlagen im Grenzgebiet sowie über ein Kulturabkommen aufgenommen. Des Weiteren war eine deutliche Verbesserung im innerdeutschen Reiseverkehr zu verzeichnen. Gab es 1984 1,5 Millionen Reisen von Rentnern aus der DDR in die Bundesrepublik, steigerte sich die Zahl 1985 auf 1,6 Millionen, 1986 auf 1,7 Millionen und 1987 schließlich auf 3,8 Millionen Reisen. Die Zahl der Reisen in dringenden Familienangelegenheiten stieg von 61.000 (1984) und 66.000 (1985) auf 244.000 im Jahr 1986 und schließlich auf 1,2 Millionen 1987. Für die Bundesregierung, die vor dem Besuch Erich Honeckers vom 7. bis 11.9.1987 in Bonn die Zunahme der Reisen von Menschen außerhalb des Rentenalters zur Bedingung der Visite gemacht hatte, war dies einer der wichtigsten Erfolge der Deutschlandpolitik, weil solche Besuche die Einheit der Nation stärkten und dabei halfen, durch persönliche Begegnungen Vorurteile abzubauen. Nur wenigen war außerdem bewusst, dass mit der Möglichkeit dieser Besuche die Sogwirkung der Freiheitsidee eine neue Chance erhielt. Auch die innerdeutschen Städtepartnerschaften leisteten hierzu einen wichtigen Beitrag.

Abb.: Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und  1. Bürgermeister der Hansestadt Hamburg Klaus von Dohnanyi unterzeichnen das Partnerschaftsabkommen zwischen ihren Städten (1987, © Bundesarchiv, Bild 183-1988-0121-323 / Häßler, Ulrich / CC-BY-SA 3.0)

Bei alldem blieb die Einheit Deutschlands das langfristige Ziel der Bundesregierung. In der kurz- und mittelfristigen Perspektive ging es jedoch um die deutsch-deutsche Kooperation unter Bedingungen, die sich nur wenig von denjenigen unterschieden, die auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen anderer Staaten herrschten. Wenn man die Teilung angesichts des Status quo nicht aus eigener Kraft überwinden konnte, sollten zumindest die praktischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Teilung menschlicher zu gestalten, ohne dabei die Option der Einheit und die grundlegenden Rechtspositionen aufzugeben.