Bundesstiftung Aufarbeitung, Ostkreuz, Harald Hauswald, Bild 900000hh535

Solidarisierung mit dem „Prager Frühling“

Die Jahre 1967/68 waren eine bedeutende Zäsur in der internationalen Entwicklung der Nachkriegszeit. In Amerika und in Europa fand ein Generationenwechsel statt, der mit einer Vielzahl tiefgreifender Veränderungen beispielsweise im Bereich der Politik sowie der Gesellschaft und ihrer Werte einherging.

Auch die Länder des Ostblocks wurden von diesen Veränderungsprozessen erfasst. In Polen demonstrierten im März 1968 Studenten für mehr politische Freiheit. In der Tschechoslowakei (ČSSR) führten wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Reformprozess, der schnell eine Eigendynamik entfaltete und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Im Unterschied zum Aufbegehren und zum Widerstand bestimmter Kreise und Personen in der DDR war dieser „Prager Frühling“ eine „von oben“ durch die Führung der kommunistischen Partei angestoßene Reform. Das Ziel der Reformer um Alexander Dubček, der im Januar 1968 zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) gewählt worden war, war die Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Die Hoffnung auf wirtschaftliche Reformen, auf Meinungs- und Reisefreiheit ließen das Volk und die reformorientierten Teile der kommunistischen Partei für kurze Zeit eng zusammenrücken.

Abb.: Tschechoslowaken tragen in Prag ihre Nationalfahne am brennenden sowjetischen Panzer vorbei. (1968, ©The Central Intelligence Agency / Public domain)

Diese Entwicklung wurde von den Hardlinern in der KPČ und auch den Parteioberen der anderen sozialistischen Staaten mit großer Sorge beobachtet. Während die Mehrheit der Bevölkerung in den Ostblockstaaten die Entwicklung in der ČSSR mit großer Sympathie und Hoffnung auf vergleichbare Veränderungen in ihrem eigenen Land begleitete, planten die Parteichefs der Kommunistischen Parteien, allen voran der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew, die Beendigung des Reformprozesses. Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts angeblich „auf Bitten der ČSSR-Führung“ in die ČSSR ein. Damit wurde, wie schon 1953 in der DDR und 1956 in Polen und Ungarn, die Forderung nach mehr Demokratie in einem Mitgliedstaat des Warschauer Paktes mit Waffengewalt niedergeschlagen. Der landesweite Widerstand blieb erfolglos, aber knapp 100 Menschen starben und Hunderte wurden verletzt.

Im Zuge einer groß angelegten Säuberung wurden ca. eine halbe Million KPČ-Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Mehr als 150.000 Bürger der ČSSR kehrten ihrem Land den Rücken. Die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings vergrößerte das Misstrauen der Bevölkerung gegen die KPČ. Daran änderte sich bis zum Untergang des kommunistischen Systems nichts. 1977 artikulierte sich die nächste Widerstandsorganisation in der ČSSR, die „Charta 77“. Sie wurde maßgeblich vom späteren Staatspräsidenten Václav Havel initiiert und war bis zum Ende des Staatssozialismus aktiv.

In der DDR machte sich im Anschluss an die Niederschlagung des Prager Frühlings eine lang angestaute Frustration Luft. Nach den sogenannten „Beatkrawallen“ des Jahres 1965 brachen tausende junge Menschen und Künstler ihr Schweigen und protestierten gegen die Niederwerfung der Demokratiebewegung im Nachbarland. „In Prag ist Pariser Kommune. Sie lebt noch!“, sang beispielsweise Wolf Biermann 1968. Allein für den Zeitraum vom 21. August bis zum 4. September 1968 registrierte das Innenministerium der DDR 1.075 protestierende „Täter“, von denen 468 verhaftet und abgeurteilt wurden.

Abb.: Generalleutnant Siegfried Weiß, stv. Verteidigungsminister, besucht Truppenteile der NVA, die am Einmarsch des Warschauer Pakts in der CSSR beteiligt waren. (1968, ©Bundesarchiv, Bild 183-2008-0118-502 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE)

Unter den Protestierenden befanden sich zahlreiche Jugendliche: Michael Brack hatte Losungen an Hauswände geschrieben und wurde mit einem Vierteljahr Untersuchungshaft bestraft. Der Student Ulrich Ebert bezeichnete die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings als „Invasion“. Dafür erhielt er nach mehreren Wochen Stasi-Untersuchungshaft eine 18monatige Zuchthausstrafe, die das Oberste Gericht der DDR nach Protesten seiner Mutter kommentarlos in eine Bewährungsstrafe umwandelte. Für die Herstellung und Verteilung von Flugblättern kam der junge Wissenschaftler Hans-Jochen Scheidler in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilte ihn das Stadtgericht Groß-Berlin zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung durfte er nicht mehr als Wissenschaftler arbeiten.

Diese Solidarisierung mit den Idealen der Reformbewegung in der ČSSR blieb in der DDR bis 1989 lebendig und war eine der wesentlichen Quellen der zu Beginn der 1980er Jahre in der DDR entstehenden Friedens- und Demokratiebewegung. Deren Zielvorstellungen orientierten sich weniger an den Zielen des Volksaufstandes von 1953, der auf den Sturz des kommunistischen Systems abzielte, sondern vielmehr am Prager Frühling, der darauf fußenden Charta 77 und der polnischen Solidarność-Bewegung. Das waren politische Oppositionsbewegungen, die den Jugendlichen in den ostdeutschen Basisgruppen näher lagen als der bis dahin in der DDR tabuisierte und propagandistisch verzerrte Volksaufstand vom 17. Juni 1953.