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Zeitmaschine DDR
Von der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches bis zur Einheit Deutschlands: Hier finden Sie die wichtigsten Ereignisse von der Teilung bis zur Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung Deutschlands in chronologischer Reihenfolge. Der Schwerpunkt liegt auf der Geschichte der DDR.
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Potsdamer Konferenz
Schon während des Krieges hatten die wichtigsten alliierten Gegner Deutschlands, nämlich die Sowjetunion, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika, in Teheran (28.11.–1.12.1943) und Jalta (4.2.–11.2.1945) über dessen Zukunft nach Kriegsende beraten. Sowohl über die Besetzung und die Aufteilung Deutschlands in vier Zonen als auch über Grenzfragen war zwischen Josef Stalin (Sowjetunion), Winston Churchill (Großbritannien) und Franklin D. Roosevelt (USA) gesprochen worden. In Jalta hatten die „Großen Drei“ zudem vereinbart, auch Frankreich in die Planungen über Nachkriegsdeutschland einzubeziehen. Hauptziel war es, den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus endgültig zu überwinden. Als materieller Ausgleich für die durch den deutschen Angriffskrieg verursachten Schäden wurde ferner eine Verpflichtung zu Reparationszahlungen festgeschrieben.
Der bedingungslosen Kapitulation (.pdf) der deutschen Wehrmacht am 8.5.1945 folgte am 5.6.1945 mit der Berliner Deklaration (.pdf) der vier Oberbefehlshaber die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Siegermächte. Das Land wurde im Juli 1945 in vier alliierte Besatzungszonen geteilt, die Reichshauptstadt Berlin erhielt einen Sonderstatus, und die Gebiete östlich von Oder und Neiße wurden unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt. Der Alliierte Kontrollrat, der über Deutschland als Ganzes entscheiden sollte, nahm seine Arbeit auf. In den einzelnen Zonen besaß der jeweilige militärische Oberbefehlshaber die Regierungsgewalt. In seine Kompetenz fielen daher auch die wesentlichen Weichenstellung im Hinblick auf die Wiederherstellung des politischen Lebens in der jeweiligen Zone. Mit der Aufteilung Deutschlands, mit der Zulassung von Parteien sowie mit der Schaffung von Verwaltungen und Ländern schufen die Alliierten von Anfang an in ihren Zonen unumstößliche Fakten – wobei die Sowjetische Militäradministration (SMAD) schneller und gezielter handelte als die westlichen Militärregierungen, und zwar im Sinne einer „Sowjetisierung“ ihrer Zone.
Ihre weiteren Ziele bezüglich Deutschlands besprachen der neue amerikanische Präsident Harry Truman, Churchill und Stalin vom 17.7. bis 2.8.1945 in Potsdam. Schnell wurde deutlich, dass mit der Beendigung des Krieges die Gemeinsamkeiten der Alliierten weitestgehend aufgebraucht waren. Zwar einigten sich die Regierungschefs auf die sechs Ziele Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung, Demokratisierung, Demontage und Dekartellisierung, doch war es nicht mehr möglich, diese Zielvorgabe mit übereinstimmenden Inhalten zu füllen. Bereits die aufgezwungene Gründung eines antifaschistischen Parteienblocks in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) machte deutlich, dass die Interessen der Sowjets nicht mit denen der Amerikaner und Briten in Einklang zu bringen waren. Zur Ausdehnung des eigenen Machtbereichs und zur Befriedigung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses verfolgte die Moskauer Führung den Plan der Sowjetisierung der Ostzone (u. a. durch Enteignungen bzw. die Verstaatlichung von Betrieben). Amerikaner und Briten setzten dagegen auf die Errichtung föderaler und dezentraler Strukturen sowie auf eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Einigkeit herrschte in Potsdam darüber, dass der vier Zonen und Berlin als Wirtschaftseinheit behandelt werden sollten.
Angesichts der gleichzeitig getroffenen Vereinbarung, dass die Alliierten die von Deutschland zu zahlenden Reparationen aus ihren Zonen entnehmen konnten, war die wirtschaftliche Gleichbehandlung und damit die Wirtschaftseinheit Deutschlands aber kaum aufrechtzuerhalten. Offen blieb bereits die Höhe der von Deutschland zu entrichtenden Reparationen. Als Kompromiss sah das Abkommen vor, dass sich jede Siegermacht aus den von ihr besetzten Gebieten nach eigenem Gutdünken bedienen konnte, unter anderem durch die Demontage von Industrieanlagen. Der Sowjetunion wurden zusätzlich zehn Prozent der Reparationen aus den Westzonen zugesagt. Insofern sie die Sowjetunion ermächtigte, ihrer Zone weitaus größere Reparationslasten aufzuerlegen, als das die Westmächte in ihrem Bereich taten, ist diese Klausel mitursächlich für das spätere Zerbrechen der deutschen Wirtschaftseinheit.
Zu den folgenreichsten Entscheidungen der Potsdamer Konferenz gehört die Zustimmung der Westmächte zu Stalins Forderung, die deutschen Gebiete östlich der Oder und der Görlitzer Neiße unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung zu stellen. Zwar sollte die endgültige Grenzziehung einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben – dieser kam jedoch aufgrund des wenig später einsetzenden Kalten Krieges nie zustande. Die Konferenz besiegelte somit die von sowjetischer Seite längst geschaffenen Fakten, einschließlich der bereits angelaufenen Vertreibung. Die Vertreibung von über zwölf Millionen Menschen aus diesen Gebieten und der dadurch ausgelöste enorme Flüchtlingsstrom Richtung Westen wurde also von den Alliierten hingenommen.
Auch Frankreich stimmte dem Schlussprotokoll der Potsdamer Konferenz grundsätzlich zu, nicht ohne gleichzeitig zu betonen, dass es aufgrund der fehlenden Anwesenheit auf der Konferenz nicht mit allen Punkten des Regelwerks einverstanden sei. So betonte General Charles de Gaulle, der Chef der Provisorischen Regierung, beispielsweise, dass Frankreich sich Deutschland nur als losen Staatenbund und keinesfalls als Wirtschaftseinheit vorstellen könne.
Den Alliierten war es in Potsdam (.pdf) nicht gelungen, sich auf klare Grundsätze für die Behandlung Deutschlands zu einigen. Das späte Hinzutreten der Franzosen erschwerte zusätzlich die Gewährleistung des Einstimmigkeitsprinzips im Kontrollrat, sodass sich die Entscheidungen der Alliierten mehr und mehr in ihre jeweilige Zone verlagerten. Damit war klar, dass sich die vier Zonen auseinanderentwickeln würden.
2890753 -
Konstituierung des Staatsrates der DDR unter dem Vorsitz von Walter Ulbricht
Volkskammer, Präsident (später durch den Staatsrat ersetzt) und Ministerrat bilden die zentralen Verfassungsorgane der DDR. Der Ministerrat entspricht der Regierung, ihm gehören der Ministerpräsident, seine Stellvertreter und die Fachminister an. Alle wichtigen Entscheidungen trifft jedoch die SED-Parteiführung.
Der Staatsrat – gewählt von der Volkskammer – setzt sich aus einem Vorsitzenden, Stellvertretern und weiteren Mitgliedern zusammen. Der Vorsitzende vertritt die DDR nach außen, die anderen Mitglieder haben praktisch keinen Einfluss. Der Staatsrat ist das einflussreichste Gremium der DDR, als Walter Ulbricht Staatsratsvorsitzender und Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED ist. Nach Ulbrichts Entmachtung als Sekretär des ZK 1971 verliert der Staatsrat Kompetenzen an den Ministerrat.
Der Ministerrat soll die Grundsätze der Innen- und Außenpolitik ausarbeiten sowie die Durchführung der Staatspolitik leiten. Ab 1952 koordiniert ein von der SED-geführtes Präsidium die Arbeit des Ministerrats.
Quelle:
Würz, Markus: Präsident, Staatsrat, Ministerrat, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
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2890809 -
Massendemonstration in Leipzig
Am 2. Oktober 1989 muss die Leipziger Nikolaikirche schon eine halbe Stunde vor Beginn des wöchentlichen Friedensgebets wegen Überfüllung geschlossen werden. Als die 2.500 Gottesdienstbesucher die Kirche verlassen, werden sie bereits von 3.000 bis 4.000 weiteren Menschen erwartet. Insgesamt beteiligen sich am Ende rund 20.000 Bürger der DDR an der anschließenden Montagsdemonstration. Es ist die größte Demonstration seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Ihnen steht ein Großaufgebot von Polizei und Kampfgruppen gegenüber.
Als aus einem Lautsprecher "Hier spricht die Volkspolizei!" tönt, antworten Demonstranten: "Wir sind das Volk!". Damit ist der Slogan der Friedlichen Revolution geboren.
Als die Polizei in voller Kampfmontur mit Schlagstöcken und Hunden aufmarschiert, haben die Demonstranten Angst, dass das SED-Regime auf sie schießen lässt. Dazu kommt es zwar nicht, aber am Ende rückt eine Kompanie der Volkspolizei mit Gewalt vor. 20 Demonstranten werden festgenommen, es gibt Verletzte.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/wir-sind-das-volk-469010
2890835 -
Gründung der DDR
Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 gegründet. Die DDR verstand sich als ein sozialistischer Staat. Sowohl der Staatsaufbau als auch die Organisation von Parteien und Massenorganisationen folgten den Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Demnach wurden die Grundfragen der staatlichen Leitung und Planung zentral entschieden, die Entscheidungen waren für die nachgeordneten Organe verbindlich. Die Durchführung dieser Entscheidungen erfolgte in eigener Verantwortung der nachgeordneten Organe. Eine strenge Staatsdisziplin wurde durchgesetzt und die (pro forma) Mitwirkung der Bürger an der Ausarbeitung und Durchführung staatlicher Entscheidungen musste gewährleistet werden.
Gelenkt wurde der Staat durch die kommunistische Partei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), und durch deren Gremien – allerdings in Abhängigkeit von der Sowjetunion und unter ihrer Kontrolle. Der absolute Führungsanspruch der SED war seit 1968 auch offiziell in Art. 1 in der sozialistischen Verfassung der DDR (.pdf) verankert. Bei der Revision dieser Verfassung 1974 strich die Volkskammer die Bezüge zur deutschen Nation.
Gemäß dem Verständnis der marxistisch-leninistischen Staatslehre von der Gewalteneinheit (gegenüber der Gewaltenteilung in bürgerlich-parlamentarischen Systemen) wurde der DDR-Staatsapparat nicht als eigenständige exekutive Gewalt gesehen. Seine Existenz und seine organisatorische Gestaltung wurden mit funktionalen Erfordernissen begründet, die aus der Rolle und den Funktionen des Staates bei der Entwicklung der Gesellschaft resultierten.
Volkskammer
Die wichtigsten staatlichen Institutionen waren die Volkskammer, das oberste staatliche Organ, dessen Rolle und Funktion sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität ergab (die Werktätigen übten durch die Volksvertretungen die Macht aus, wobei diese Machtausübung gemäß dem Prinzip des demokratischen Zentralismus und auf der Basis der Bündnispolitik erfolgte), der Ministerrat sowie der Staatsrat. Die Volkskammer, deren Präsident von 1976 bis 1989 Horst Sindermann war, fungierte dabei als Parlament und wurde alle vier Jahre vom Volk gewählt. Allerdings gab es keine konkurrierenden Listen, sondern alle Kandidaten, auch die der Blockparteien und der Massenorganisationen, traten auf einer Einheitsliste an. Die Mandatsverteilung stand bereits vor der Wahl fest, so dass die absolute Macht der SED stets ungefährdet war.
Ministerrat
Der Ministerrat war die Regierung mit allen Ministerien, Staatssekretariaten, Ämtern, den Kollegien der Ministerien, und den anderen Organen der Verwaltung. Auch der Oberbürgermeister von Ost-Berlin gehörte dem Ministerrat an. Von 1964 bis 1973 und von 1976 bis 1989 stand der Ministerrat unter dem Vorsitz von Willi Stoph; der erste Ministerpräsident der DDR war von 1949 bis 1964 der frühere Sozialdemokrat Otto Grotewohl.
Staatsrat
Der Staatsrat, 1960 nach dem Tod des ersten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck gebildet, nahm die Funktionen eines kollektiven Staatsoberhaupts der DDR wahr. Ihm gehörten u. a. die Vorsitzenden der Blockparteien sowie führende Vertreter der SED an. Der Sitz von Volkskammer, Minister- und Staatsrat befand sich in Berlin (Ost), offiziell „Berlin, Hauptstadt der DDR“ genannt. Lediglich das Verteidigungsministerium der DDR hatte seinen Sitz aufgrund des alliierten Status der Stadt nicht in Berlin, sondern im nahe gelegenen Strausberg.
Ministerien
Die Ministerien in der DDR als staatliche Organe waren für die zentrale Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben in den verschiedenen Gebieten wie Wirtschaft, Industrie, Innen-, Außen- und Sozialpolitik verantwortlich. Verantwortungsbereich und Kompetenzen waren im Statut des Ministeriums festgelegt. Die Ministerien trugen die Verantwortung für die planmäßige Entwicklung der von ihnen geleiteten Industriezweige bzw. anderen Bereiche. Sie standen in der Pflicht, die Beschlüsse der SED, die Gesetze sowie andere staatliche Rechtsnormen durchzuführen, und mussten die dafür notwendigen Entscheidungen treffen. Zu diesem Zweck hatten sie das Recht, eigenverantwortlich am Rechtsverkehr teilzunehmen und vermögensrechtliche Beziehungen einzugehen, wozu ihnen durch den Staatshaushalt der DDR jährlich finanzielle Mittel in Form eines Haushalts übertragen wurden.Die DDR war international in das Militärbündnis „Warschauer Vertrag“ (auch als „Warschauer Pakt“ bezeichnet) und in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) eingebunden und seit 1973 Mitglied der Vereinten Nationen.
2890846 -
Vorlage des Zehn-Punkte-Plans zur Deutschlandpolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl
Mit der Bekanntgabe des Zehn-Punkte-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989 setzte Helmut Kohl das Thema der deutschen Wiedervereinigung unwiderruflich auf die politische Tagesordnung – und dies zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Frage für die meisten Partner und Verbündeten der Bundesrepublik wie auch für einen beträchtlichen Teil der westdeutschen politischen Klasse längst nicht mehr offen schien. Kohl folgte dabei den Maximen Konrad Adenauers, der stets gemahnt hatte, es gelte aufzupassen, „ob der Augenblick kommt“. Die überraschende Wirkung des Zehn-Punkte-Programms kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989 stellten sich zwei Fragen immer drängender: Wie soll es jetzt weitergehen? Und: Wer nimmt das Heft des Handelns in die Hand? Erste Antworten kamen von Hans Modrow. Am 17. November schlug der neue DDR-Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung eine „Vertragsgemeinschaft“ zwischen Bundesrepublik und DDR vor, die „weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten“ hinausgehen sollte. Zwar konnte sich niemand etwas Genaues darunter vorstellen, aber gerade das war – ob so intendiert oder nicht – die Stärke des Modrow-Vorschlags: Er beschäftigte die Phantasie einer zwischen Freude und Bangen schwankenden Öffentlichkeit und ließ die Regierung Kohl für ein kurzen Moment ideenlos und tatenarm aussehen.
Rede Kohls vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989
Anderthalb Wochen später zog Kohl mit dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa“ (so die regierungsamtliche Bezeichnung) die Initiative an sich. Seine Rede vor dem Deutschen Bundestag definierte ein klares Ziel: die staatliche Einheit Deutschlands in einem zusammenwachsenden Europa. Und sie legte fest, welche Prinzipien – zum Beispiel die Irreversibilität der deutschen Westintegration – auf dem Weg dorthin zu beachten seien. Kohl legte größten Wert darauf, dass sein Programm nicht als „Plan“ bezeichnet werde, wie es fälschlicherweise immer wieder geschah und heute noch geschieht. Ein Plan enthält zeitliche Festlegungen, die in einer unübersichtlichen Situation von heute auf morgen Makulatur werden können. Der entscheidende Vorteil eines Programms liegt in der größeren Flexibilität.
Die Form der Rede passte genau zu ihrem Inhalt. Das Stakkato der Zehn Punkte signalisierte Entschlossenheit. Überhaupt: Dass es ausgerechnet zehn Punkte waren (am Beginn des Entstehungsprozesses stand eine „krumme“ Zahl), entsprang psychologischem Kalkül. Zehn Punkte – wer würde da nicht an die Zehn Gebote denken? Die Zehn war eine magische Zahl. Sie wirkte nicht zufällig, sondern erweckte den Eindruck eherner Notwendigkeit.
Trotz mancher Fragezeichen wirkte die Rede wie ein dickes Ausrufungszeichen. Niemand konnte von da an mehr behaupten, das sei die übliche Bonner Sonn- und Feiertagsrhetorik zur Einheit der Nation. Für die meisten Partner und Verbündeten der Bundesrepublik – wie auch für einen beträchtlichen Teil der westdeutschen politischen Klasse – war die deutsche Frage schon längst nicht mehr „offen“. Sie wurden gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Dieser Effekt ist wohl ein Schlüssel zum Verständnis der enormen Wirkung des Programms.
Unerwartete Wirkung
Heute kann man sich die Verblüffung vieler damaliger Zeitgenossen nicht mehr vorstellen, als der Bundeskanzler die Bühne betrat und ein vermeintlich abgeschlossenes Kapitel wieder aufschlug. Wir alle unterliegen einer Fehlwahrnehmung, die der französische Philosoph Henri Bergson als die Illusion des „rückblickenden Determinismus“ bezeichnet hat. Gemeint ist die menschlich-allzumenschliche Neigung zu glauben, dass das, was tatsächlich geschehen ist, auch so geschehen musste. Doch vor Tische las man’s anders. Erinnert sei nur an Egon Bahrs berühmte Warnung Anfang Oktober 1989: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen.“ Auch war die deutsche Einheit im Herbst 1989 keineswegs alternativlos: Nicht nur unter ostdeutschen Bürgerrechtlern, sondern auch unter westdeutschen Linken galt eine demokratisch runderneuerte DDR als vorzugswürdige Option.
Auf der Weltbühne gab es vor 30 Jahren nur einen mächtigen Freund, auf den sich die Deutschen in Sachen Wiedervereinigung hundertprozentig verlassen konnten: den amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush. Mit dieser Rückendeckung wagte Kohl den Sprung ins Ungewisse. Er war davon überzeugt, dass die meisten Menschen in der DDR seinen Kurs unterstützen würden, dass sie mehr wollten als eine demokratisch runderneuerte DDR – nämlich die staatliche Einheit; er sollte Recht behalten. Aber solange es keinen förmlichen Akt der Selbstbestimmung gegeben hatte – wie er dann mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 vollzogen wurde –, musste Kohl dieses Thema im Konditional ansprechen. So heißt es im Vorspann zu den Zehn Punkten: „Wir werden … jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.“
Die Entscheidung für ein „Programm“ und gegen einen „Plan“ erwies sich schon sehr bald als richtig. Kohl selbst hat in vielen Interviews seit 1990 immer wieder erklärt, er habe Ende November 1989 geglaubt, die deutsche Einheit werde frühestens nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes, also nach dem 31. Dezember 1992 kommen. Die Ereignisse überstürzten sich jedoch in einem solchen Tempo, dass jedes zeitliche Korsett entweder sofort auf dem Müll gelandet wäre oder die Handlungsfreiheit der Bundesregierung in unerträglichem Maße eingeschränkt hätte.
Zum letzten Mal bekräftigte Kohl öffentlich das Zehn-Punkte-Programm bei einer Rede in Bremen am 20. Januar 1990. Damals zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die deutsche Einheit sehr viel schneller kommen werde als Ende 1989 erwartet. Noch am 19./20. Dezember 1989 hatten Kohl und Modrow in Dresden vereinbart, am 13. Februar 1990 in Bonn über die Ausgestaltung der „Vertragsgemeinschaft“ zu verhandeln. Doch daraus konnte nichts mehr werden. Der enorme Zustrom von Übersiedlern aus der DDR, die offenkundige Reformunwilligkeit der Regierung Modrow und die Vorverlegung der Volkskammerwahl auf den 18. März 1990 erhöhten den Druck, gleich aufs Ganze zu gehen. Mit Kohls Angebot einer innerdeutschen Währungsunion im Februar 1990 und der Option der allermeisten DDR-Parteien (sicher mit Ausnahme der PDS) für eine Wiedervereinigung nach Artikel 23 Grundgesetz war die Philosophie der Zehn Punkte passé. Genauer gesagt: Die Zehn Punkte hatten ihren Zweck erfüllt.
Ideen und Ausführung
Über den Prozess der Entstehung und Ausarbeitung des Zehn-Punkte-Programms in den Tagen vom 23. bis zum 27. November 1989 gibt es inzwischen eine reichhaltige Literatur. Leider ist sie oft lücken- und fehlerhaft. Da der Erfolg viele Väter hat (der Misserfolg ist bekanntlich ein Waisenkind), sollte man sich nicht wundern, dass die Zahl derjenigen, die sich selbst als entscheidende Ideengeber darstellen, mit wachsendem Zeitabstand zunimmt. Als damaliger Chefredenschreiber von Helmut Kohl und Mitautor des Programms habe ich, um solche Zeitzeugnisse präventiv zu neutralisieren, schon bald einen detaillierten Werkstattbericht erstellt, der im Sammelband „Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre“ (Duncker & Humblot, Berlin 2001) veröffentlicht wurde.
Der Entwurf des Zehn-Punkte-Programms, den Kanzler Kohl am Wochenende des 25./26. November 1989 daheim in Ludwigshafen sorgfältig überarbeitete, liegt im Original beim Deutschen Historischen Museum in Berlin. Ich habe ihn – mit Genehmigung des Altbundeskanzlers – dem Museum geschenkt unter der Auflage, dass die wissenschaftliche Forschung Zugang zu diesem Dokument erhält.
Für das Autorenteam unter Leitung von Horst Teltschik, das die Zehn Punkte nach den politischen Vorgaben des Bundeskanzlers entwickelte, war zunächst einmal wichtig, die deutschlandpolitischen Grundlagen herauszuarbeiten, auf denen das Programm stehen sollte. Die Verbündeten mussten an alte Zusagen erinnert werden, die sie vielleicht schon vergessen hatten. So heißt es im Vorspann zu den Zehn Punkten: „Wir nähern uns … dem Ziel, das sich das Atlantische Bündnis bereits im Dezember 1967 [im Harmel-Bericht] gesetzt hatte.“ Und dann zitiert Kohl: „Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist ... nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.“
Von der „Einheit der Nation“ zur „Wiedervereinigung“
Den Kern des Zehn-Punkte-Programms bildeten die Punkte 4, 5 und 10 – der Dreischritt von einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen Bundesrepublik und DDR über „konföderative Strukturen“ bis hin zur bundestaatlichen Einheit. Warum „konföderative Strukturen“? Kohl wollte nicht von „Konföderation“ reden, denn eine solche Konstellation hätte bedeutet, dass die Zweistaatlichkeit auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten worden wäre. Es dürfe – so Kohl – aber kein Zweifel daran aufkommen, dass er nur an Zwischenschritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung denke. In diesem Zusammenhang erinnerte er daran, dass es schon in der 1950er-Jahren einen Konföderations-Vorschlag von Walter Ulbricht gegeben habe. Außerdem müsse deutlich werden, dass eine Konföderation nur zwischen zwei Ländern mit vergleichbarer Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung möglich sei. Er akzeptierte schließlich die Formel „konföderative Strukturen“, weil sie falsche Assoziation vermied und die Offenheit des staatsrechtlichen Prozesses verdeutlichte.
Kohl selbst führte die Begriffe „wiedervereinigt“ (in Punkt 5) und „Wiedervereinigung“ (in Punkt 10) ein. Was aus heutiger Sicht ein unbeachtliches Detail zu sein scheint, war damals – psychologisch gesehen – ein großer Sprung nach vorn. In seiner deutschlandpolitischen Rhetorik hatte es der Kanzler bislang vorgezogen, von „Einheit der Nation“, von der „gemeinsamen Freiheit aller Deutschen“ oder vom „Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen“ zu sprechen. Diese Begriffe brachten sein deutschlandpolitisches Fernziel hinreichend klar zum Ausdruck. Zugleich ließen sie der Phantasie genügend Spielraum, sich verschiedene Varianten deutscher Einheit in Freiheit vorzustellen – bis hinunter zum Minimum einer sogenannten „Österreich-Lösung“ für die DDR. Ausgerechnet jetzt nahm Kohl die in den 1950er- und 1960er-Jahren gängige, seit der sozialliberalen Ostpolitik zunehmend verpönte Vokabel „Wiedervereinigung“ in den Mund. Damit unterstrich er auf unzweideutige Weise, dass er das deutschlandpolitische Maximum, die staatliche Einheit Deutschlands, anvisierte.
Für Punkt 7 wünschte sich Kohl eine starke Betonung der Idee, dass die Europäische Gemeinschaft sich für junge Demokratien Mittel- und Osteuropas „offenhalten“ müsse. Die EG dürfe nicht an der Elbe enden. Er wies der Gemeinschaft die Aufgabe zu, „Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung zu werden“ und die „Identität aller Europäer“ zu wahren, zu behaupten und zu entwickeln. Meines Wissens ist er damit unter allen europäischen Staats- und Regierungschef der erste gewesen, der eine Aufnahme der jungen postkommunistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas in den Blick nahm.
Deutschlandpolitik in der Tradition Adenauers
Mit dem Zehn-Punkte-Programm steuerte Kohl das Schiff aus dem sicheren Hafen auf stürmische See. Er hatte das Ziel vor Augen und einen gut funktionierenden Kompass in der Hand, aber keiner wusste genau, welche Eisberge auf der Strecke warteten und ob wir manövrierfähig genug sein würden, sie ohne Schaden zu umfahren.
Für Kohl stand von Anfang an außer Frage, dass ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO sein müsse. Aber im November 1989 sprach nichts als Hoffnung für die Annahme, dass es der Bundesregierung mit amerikanischer Hilfe gelingen werde, der Sowjetunion eine solche Konzession abzuringen. Der Kanzler musste und wollte das Thema zwar ansprechen – aber so, dass weder der Kreml unnötig provoziert wurde noch unsere Verbündeten den Eindruck gewinnen konnten, wir wollten die NATO auf dem Altar der Wiedervereinigung opfern und durch die KSZE ersetzen. Deshalb ist in Punkt 10 recht vage von „übergreifende[n] Sicherheitsstrukturen in Europa“ die Rede.
Helmut Kohls deutschlandpolitische Rhetorik – vor allem sein beharrlich wiederholtes Bekenntnis zum Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes von 1949 – war seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 zu Unrecht immer wieder dem Verdacht ausgesetzt, Lippenbekenntnis zu sein, das die bloße Fortführung des sozialliberalen Managements der deutschen Teilung und die angebliche Vertiefung der Zweistaatlichkeit durch forcierte europäische Integration übertünchen sollte.
In gewisser Hinsicht entsprach diese Unterstellung dem Argwohn, der jahre- und jahrzehntelang Adenauers Bekenntnissen zum Ziel der Wiedervereinigung entgegengebracht wurde. Als „Enkel Adenauers“ hielt sich Kohl an die weisen Empfehlungen des ersten deutschen Bundeskanzlers: Es gelte aufzupassen, „ob der Augenblick kommt“ – und gleichzeitig müsse die Bundesrepublik als verlässliches Glied der westlichen Staatengemeinschaft dazu beizutragen, dass sich die günstige Gelegenheit auch tatsächlich ergebe. Ihren entscheidenden Test bestand diese Politik des strategischen Abwartens im Herbst 1989.
Text von Michael Mertes
2890888 -
Unterzeichnung des Einigungsvertrages
Unterzeichnung des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands in Ost-Berlin durch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günther Krause. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Art. 23 GG am 3.10.1990 werden die fünf Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Er umfasst annähernd 1000 Seiten, untergliedert in 9 Kapitel und 46 Artikel mit einer Fülle von Anlagen – der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der deutschen Einheit“, kurz „Einigungsvertrag“ genannt. Mit Unterzeichnung dieses schon vom bloßen Umfang her beeindruckenden Dokuments am 31. August 1990 waren die inneren Aspekte zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands geregelt.
Ausgangslage
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands war der am 18. Mai 1990 unterzeichnete und am 1. Juli in Kraft getretene erste Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Ein zweiter Staatsvertrag sollte die Fragen der Rechtsüberleitung klären und die Schaffung der inneren Ordnung für das nach Artikel 23 Grundgesetz beitretende Gebiet der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland regeln.
Doch hatte sich die innenpolitische Ausgangslage für die Bundesregierung nach der Niederlage der CDU bei der Landtagswahl am 13. Mai 1990 in Niedersachsen drastisch verändert. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP besaß im Bundesrat keine Stimmenmehrheit mehr. Zudem benötigte die Bundesregierung für den zweiten Staatsvertrag, der die Einigung besiegeln sollte und ohne Änderungen des Grundgesetzes nicht zu bewerkstelligen war, die Stimmen der SPD für eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag. Somit war die Regierungskoalition zu Arrangements mit den Sozialdemokraten gezwungen. Außerdem forderten die Länder ihre umfassende Beteiligung an den weiteren Verhandlungen mit der DDR. Die Ministerpräsidentenkonferenz betonte daher am 22. Juni die im Verhältnis zum Bund gleichgewichtige Mitverantwortung der Länder für den deutschen Einigungsprozess.
Schon in der zweiten Maihälfte ließ Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Hause eine erste Arbeitsskizze über die „Grundstrukturen eines Staatsvertrages zur Herstellung der Deutschen Einheit“ – bald Einigungsvertrag genannt – ausarbeiten, dem DDR-Unterhändler Günther Krause mit einem Fünf-Seiten-Papier begegnete, das stichpunktartig Grundgesetz, Wirtschaft, Finanzen, Innenpolitik, Außenpolitik, Rechtswesen und Schule/Universität als zu regelnde Probleme aufführte. Zunächst galt es allerdings, zwei grundsätzliche Fragen zu klären: den Zeitpunkt gesamtdeutscher Wahlen und die Modalitäten des Beitritts der DDR.
Streit um die erste gesamtdeutsche Wahl
Um Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Parlament noch im Jahre 1990 zu ermöglichen, wurden drei Modelle diskutiert. Die erste Möglichkeit, erste gesamtdeutsche Wahlen zum Zeitpunkt der fälligen Bundestagswahl abzuhalten, setzte eine frühzeitige Beitrittserklärung der DDR voraus, um genügend Zeit zur Vorbereitung für die in der Zeit vom 2. Dezember 1990 bis 13. Januar 1991 geplanten Bundestagwahlen zu haben. Die zweite von Schäuble und dem DDR-Verhandlungsführer Krause befürwortete Möglichkeit, am selben Tage in beiden Teilen Deutschlands getrennte Wahlen abzuhalten, wobei in der Bundesrepublik die geplanten Bundestagswahlen stattfinden und in der DDR Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament abgehalten würden, verhieß, gesamtdeutsche Wahlen und Wiedervereinigung zu vereinbaren. Dazu bedurfte es aber eines Wahlgesetzes durch das Gesetzgebungsverfahren in der DDR. Zudem existierten dort noch keine Länder, in denen die Parteien ihrerseits Wahllisten aufstellen konnten. Auch mussten wiederum Regionen festgelegt sein. Weiterhin war ein Bundesgesetz notwendig, das die Übernahme der Abgeordneten der DDR in den Deutschen Bundestag bestimmen würde. Die dritte Variante sah den Abschluss eines Wahlvertrages vor. Der Wahlmodus müsste sich nach dem Bundestagswahlrecht richten. Mit Abschluss der Wahl oder kurze Zeit danach würde der Beitritt dann wirksam. Ein Problem stellte die Fünf-Prozent-Sperrklausel dar. Im Falle getrennter Wahlen würden zwei verschiedene Wahlsysteme über die Zusammensetzung der Parteien und der Abgeordneten des Deutschen Bundestages entscheiden.
Beitrittsmodalitäten
Bei Überlegungen zu den Beitrittsmodalitäten spielte als Vorbild der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 1958 eine wichtige Rolle. Zwei grundsätzliche Fragen standen im Vordergrund: ob ein Staatsvertrag oder ein Überleitungsgesetz als Instrumentarium für den Beitritt der DDR dienen sollte, und in welchem Umfang das Grundgesetz geändert werden müsste. Denn aufgrund des Beitritts nach Artikel 23 Grundgesetz würde Bundesrecht nicht automatisch in der DDR in Kraft gesetzt. Politisch günstiger schien es dem Bundesinnenministerium, einen Staatsvertrag auszuhandeln. Dann wüsste die DDR, „wohin die Reise geht“, die zeitliche Konkordanz von Beitritt und Rechtsangleichung wäre gegeben, alle Änderungen und Anpassungswünsche könnten in einem gesetzgeberischen Akt gebündelt werden; zudem würden endlose Debatten über die Überleitungsgesetzgebung vermieden. Mit der Überleitung von Bundesrecht auf die DDR könnten zwei Ziele sichergestellt werden: die umfassende und schnelle Verwirklichung der Rechtseinheit und die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland.
Vorteile eines zweiten Staatsvertrages
Auch die Regierung de Maizière wollte unbedingt einen Staatsvertrag abschließen. Sie trat dabei als gleichberechtigter Verhandlungspartner auf, was psychologisch eine wichtige Rolle spielte. Außerdem eröffnete der Staatsvertrag die Möglichkeit detaillierter Regelungen. Übereinstimmung herrschte, das Ausmaß der Grundgesetzänderungen auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Doch welche Änderungen noch erforderlich wären, darüber gingen die Meinungen unter den Bundesministerien weit auseinander.
Auf keinen Fall wollte die Bundesregierung eine allgemeine Diskussion um eine Verfassungsnovellierung in Gang setzen. Schäuble beabsichtigte, in den zweiten Staatsvertrag lediglich diejenigen rechtstechnischen Anpassungen aufzunehmen, die für die Herstellung der staatlichen Einheit erforderlich wären. Diese Minimallösung intendierte, nur die Präambel zu ändern und Artikel 23 Grundgesetz, der als Ermächtigungsnorm für das Überleitungsrecht gebraucht würde, eventuell ersatzlos zu streichen. Hinsichtlich der Präambel des Grundgesetzes war jedoch fraglich, ob der Gedanke der Vollendung der deutschen Einheit ausdrücklich enthalten sein sollte. Artikel 29 Grundgesetz über die Neugliederung des Bundesgebietes sollte eine völlige Neufassung mit dem Ziel erfahren, die künftige Länderneugliederung zu erleichtern.
Die vollständige Überleitung des Grundgesetzes wurde nicht zuletzt wegen der Wehrverfassung - insbesondere Artikel 12a Wehr- und Dienstpflicht, Artikel 87a Aufstellung und Einsatz der Streitkräfte und Artikel 115a-l Verteidigungsfall - im Zusammenhang mit der Frage des Oberbefehls über die Nationale Volksarmee und der Durchführung des Lastenausgleichs nach Artikel 120a Grundgesetz als problematisch angesehen. Das Bundesministerium der Verteidigung sprach sich für die vollständige Übertragung der Wehrverfassung aus, eventuell mit Abstrichen, um sich somit Möglichkeiten der Konzessionen bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu bewahren. Das Auswärtige Amt erkannte darin eine unnötige Belastung der Verhandlungen. Das Bundeskanzleramt sprach sich dafür aus, zumindest partiell die sofortige Überleitung anzustreben.
Bei Artikel 116 Grundgesetz trat die Frage auf, ob es nach Wiederherstellung der Einheit noch Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit geben würde. Von Interesse war die Frage vornehmlich für das Ausland. Das Bundeskanzleramt befürchtete, die Beibehaltung könnte ein falsches Signal geben, in dem Sinne, die Deutschen seien noch nicht „saturiert“. Ein weiteres Problem stellte sich mit einer neuen Regelung des § 218 StGB. Überlegt wurden Möglichkeiten, unterschiedliche Modalitäten für eine Übergangszeit beizubehalten.
Zudem strebte die DDR-Regierung vor Ratifizierung des Staatsvertrages die Veröffentlichung einer Gemeinsamen Erklärung mit der Bundesregierung zu den offenen Vermögensfragen an. Von der ersten Entwurfsfassung war die Regierung de Maizière jedoch abgerückt, weil darin die politische Endgültigkeit der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 ohne Entschädigung festgestellt wurde. Es sollte nur eine Entschädigung und keine Erbbaurechtsregelung geben, geschweige denn eine Rückübertragung für Enterbte. Dies war für die Bundesregierung nicht akzeptabel. Das Bundesjustizministerium zielte nun darauf, einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den Westeigentümern und den Bürgern in der DDR im Sinne einer gleichrangigen Entschädigungsregelung zu erreichen. Dies bedeutete ein Entgegenkommen gegenüber der DDR, denn die Restitution sollte zwingend Vorrang vor einer Entschädigung haben. Außerdem sollte eine Veränderungssperre gelten. Die DDR allerdings beharrte darauf, dass Enteignungen endgültig sein und nicht rückgängig gemacht werden sollten, und die Bundesregierung nahm dies zur Kenntnis. In der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni wurden schließlich Eckwerte festgelegt, die eine grundsätzliche Rückübertragung des enteigneten Vermögens vorsahen.
Verhandlungspositionen
In dem Papier „Eckpunkte für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland“ vom 5. Juli formulierten die westdeutschen Länder ihre Forderungen im Einigungsprozess: keine Neuordnung des Finanzausgleichs vor 1994/95, Einsetzung einer Enquete-Kommission für Verfassungsreformen, eventuell Neufassung des Artikels 24 Grundgesetz hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, stärkere Mitsprache bei der Festlegung deutscher Positionen zur europäischen Integrationspolitik und eine neue Stimmenverteilung im Bundesrat. Berlin erhob Anspruch auf die Hauptstadtrolle und hielt sich die Türe für eine Zusammenlegung der entstehenden Länder Berlin und Brandenburg offen. Nordrhein-Westfalen und Hessen wollten dagegen die Hauptstadtfrage nicht im Staatsvertrag regeln, sondern die Entscheidung dem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten.
Schäubles Schachzug, alle notwendigen Prüfungen für den Beitritt soweit vorbereiten und anschließend nur noch über das sprechen, was die DDR-Regierung als verhandlungsnotwendig erachten würde, sollte verhindern, dass die SPD notwendige Grundgesetzänderungen zum Hebel einer weiterreichenden Verfassungsrevision machte.
Verhandlungsverlauf
Bis zur Unterzeichnung des Vertrages fanden drei Verhandlungsrunden zwischen den Delegationen statt. In der ersten Verhandlungsrunde am 6. Juli forderte de Maizière Verständi¬gung über vier Punkte. Er schlug die Bezeichnung „Deutsche Bundesrepublik“ vor und eine neue gesamtdeutsche Hymne, deren „1. Strophe die – textlich an die Melodie von Haydn angepasste – DDR-Hymne und als 2. Strophe die 3. Strophe des Deutschlandliedes umfassen“ könnte. Schäuble dagegen sah keine Veranlassung, Fahne und Hymne der Bundesrepublik Deutschland zu ändern. Weiterhin wollte de Maizière die Hauptstadtfrage im Einigungsvertrag regeln, während Schäuble vorschlug, die Entscheidung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorzubehalten. Ferner verlangte de Maizière, die Erträge der Treuhandanstalt sollten ausschließlich dem Gebiet der DDR zugute kommen. Was die Änderung des Grundgesetzes betraf, so stimmte die DDR-Delegation der Ansicht Schäubles zu, die Modifikationen auf das Notwendigste zu beschränken und nur die Präambel sowie die Artikel 23, 29 und 146 anzupassen. De Maizière intendierte die Konkretisierung der Staatszielbestimmungen und regte an, Artikel 23 zu streichen.
Es folgten in Bonn und Berlin umfangreiche Fachgespräche unter Beteiligung der Bundesländer. Auf der Grundlage der Ergebnisse wurde während der zweiten Delegationsrunde, die vom 1. bis 3. August in Ost-Berlin stattfand, weitgehendes Einvernehmen über die Struktur und wesentliche Formulierungen des Vertragstextes erzielt und ein erster Entwurf erstellt – trotz wachsender Differenzen auf bundesdeutscher Seite wie auch innerhalb der Koalitionsregierung in Ost-Berlin. Bis zur letzten Verhandlungsrunde, deren Beginn für den 27. August in Bonn vorgesehen war, dann aber wegen des steigenden Zeitdrucks vorgezogen wurde, hatten die Ressorts nun die Aufgabe, anhand von Leitfäden die Formulierung der Anlagen zum Einigungsvertrag vorzunehmen. Bei der dritten und Verhandlungsrunde, die vom 20. bis 24. August im Bonner Verkehrsministerium stattfand, wurden die vorliegenden Entwürfe Punkt für Punkt durchgegangen und auf strittige Punkte und notwendige Ergänzungen oder Änderungen abgeklopft. Zwischen dem 26. und dem 30. August konnten in vier Spitzengesprächen, in denen auch noch die bundesdeutsche FDP Änderungswünsche vorbrachte, Kompromisslösungen gefunden werde.
Die eigentliche „Schlachtfront“ in den weiteren Verhandlungen verlief jedoch weniger zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung. Vielmehr traten nun erhebliche Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern, nicht zuletzt den SPD-geführten Ländern unter Vorsitz Nordrhein-Westfalens, auf, das die Forderungen der Opposition einbrachte. Im Wesentlichen konzentrierten sich die Beratungen auf die beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes, die Haushalts- und Finanzhilfen und auf Fragen der Überleitung des Bundesrechts und der öffentlichen Verwaltungen.
Strittige Punkte
In der Präambel wollte der Bund lediglich die Vollendung der Einheit zum Ausdruck bringen, der sich die DDR-Delegation weitgehend anschloss, während die SPD-geführten Landesregierun¬gen den Gedanken der Verantwortung für unterentwickelte Gebiete der Erde, den Umweltschutz, das Recht auf Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Kultur als Staatsziele berücksichtigt sehen wollten. Zu den weitergehenden Forderungen der Länder nach Änderungen des Grundgesetzes gehörte die Neufassung von Artikel 72 Grundgesetz mit der Absicht, eine Einschränkung der Befugnisse des Bundes zur Gesetzgebung im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung vorzusehen und die Erweiterung der Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 83 durch Hinzufügung eines zweiten Absatzes. Ferner schlug Nordrhein-Westfalen vor, einen Artikel 146a in das Grundgesetz einzufügen, mit dem Bundestag und Bundesrat zur Einberufung eines Verfassungsrates ermächtigt würden, der binnen zwei Jahren auf der Basis des Grundgesetzes eine neue Verfassung auszuarbeiten hätte. Dieser sollte mit Zweidrittel-Stimmenmehrheit über die neue Verfassung beschließen, die durch Volksentscheid von der Mehrheit der Wahlberechtigten zu bestätigen wäre. Umstritten war zudem die Verteilung des Länderanteils, insbesondere der neuen Bundesländer und deren Gemeinden, an der Umsatzsteuer. Der Bund beabsichtigte die Aufteilung in einen West- und einen Ost-Anteil nach Einwohnerzahl. Die Länder lehnten dies ab, da aus ihrer Sicht ihre Finanzbeteiligung durch den Fonds Deutsche Einheit geregelt war.
Am 18. Juli unterbreitete das Bundesministerium des Innern Überlegungen zur Grundstruktur des Einigungsvertrages und trieb damit die Verhandlungen voran. Darüber hinaus lagen ein Entwurf des Bundesinnenministeriums und ein Vorschlag der DDR für die Präambel des Einigungsvertrages vor. Hinsichtlich der Änderung der Präambel des Grundgesetzes waren sich alle Beteiligten einig, die Forderung von jüdischer Seite nach Erwähnung des Holocaust in der Präambel des gesamtdeutschen Staates nicht aufzunehmen.
Immer lauter werdende Stimmen in der DDR nach sofortigem Beitritt brachten die Volkskammer am 22. Juli dazu, die Bundesregierung zum Abschluss eines Wahlvertrages mit der DDR aufzufordern. Das schloss getrennte Wahlen aus. Schäuble und Krause, lange Anhänger dieses Modells, mussten jenen Kräften bei den verschiedenen Parteigruppierungen Tribut zollen, für die neben dem Wahltermin auch die Frage der Sperrklausel bei der Ausgestaltung des Wahlrechts von entscheidendem Interesse war. Desto heftiger entbrannte nun der Streit um die Fünf-Prozent-Sperrklausel. Die Bundesregierung wollte die PDS nach Möglichkeit aus dem gesamtdeutschen Parlament heraushalten. Diese Möglichkeit bestand nur, wenn sich die Fünf-Prozent-Sperrklausel auf das gesamte Wahlgebiet der Bundesrepublik, der DDR und Berlins bezöge. Dazu würde die PDS auf dem Gebiet der DDR, wo sie vermutlich nur ein größeres Wählerpotential ansprechen konnte, über 23 Prozent der Stimmen erringen müssen, um im gesamten Wahlgebiet über die Fünf-Prozent-Hürde zu gelangen. Von dieser Regelung war aber ebenso die der CSU nahestehende DSU betroffen. Schäuble plädierte deshalb für die getrennte Anwendung der Klausel nach dem Wahlgebiet der bisherigen Bundesrepublik und der DDR, was ihm prompt von Seiten der SPD und des Koalitionspartners FDP den Vorwurf einbrachte, CDU/CSU wollten nur die DSU politisch am Leben erhalten.
In einem Koalitionsgespräch am 26. Juli verständigten sich CDU/CSU und FDP als Erstes auf den 2. Dezember als endgültigen Wahltermin. Der Lösungsansatz lag darin, im Wahlvertrag die Fünf-Prozent-Sperrklausel festzuschreiben und für die erste gesamtdeutsche Wahl Listenverbindungen zwischen Parteien und politischen Gruppierungen zuzulassen, die nicht in einem Land nebeneinander kandidieren. Jeder Partei stünden drei Optionen offen: die Ausdehnung auf das gesamte Wahlgebiet, die Fusion mit einer anderen Partei im jeweiligen anderen Teil Deutschlands oder die Vereinbarung einer Listenverbindung. Damit war den Interessen von SPD und FDP genauso gedient wie der CSU und der DSU, die gemeinsam die Fünf-Prozent-Hürde nehmen könnten, da sie nicht in einem Bundesland nebeneinander kandidierten. Das Bundesverfassungsgericht machte allerdings diesen Kompromiss am 29. September mit seiner Entscheidung wieder hinfällig. Demnach durfte bei der ersten Wahl des gesamtdeutschen Parlaments die Fünf-Prozent-Klausel nur auf die beiden bisherigen Wahlgebiete der Bundesrepublik und der DDR bezogen angewandt werden.
In der ersten Augusthälfte spitzte sich die Koalitions¬krise der Regierung de Maizière zu. Sie führte am 15. August zur Entlassung der SPD-Minister und erhöhte allseits den Verhandlungsdruck. Zunächst kam es im Bund-Länder-Verhält¬nis auf die Klärung der hauptsächlich noch strittigen Punkte an: Verteilung der Umsatzsteuer, Änderungswünsche der SPD-regierten Länder bei den offenen Vermögensfragen, Bund/Länder-Verteilung bei dem Verwaltungs- und Finanzvermögen und der Treuhandanstalt, Rege¬lung für den öffentlichen Dienst der DDR, Staatszielbestimmungen, Änderungen des § 218 StGB und die Stimmrechtverteilung im Bundesrat. Noch bevor der Einigungsvertrag fertig ausgehandelt war, drän¬gte die DSU jedoch auf einen Beitrittsbeschluss, dem die überwiegende Mehrheit der Volkskammer in der Nacht zum 23. August zustimmte.
Genaugenommen war nun der Abschluss des Einigungsvertrages nicht mehr erforderlich. Bundesrecht hätte auch durch ein Überleitungsgesetz in der DDR in Kraft gesetzt werden können. Das aber wollte die Bundesregierung wegen der negativen politischen Wirkungen nicht. Ihr kam es darauf an, dennoch den Einigungsvertrag abzuschließen. Obwohl in den Augen Wolfgang Schäubles die Einigung „auf gutem Weg“ war, musste der Bundeskanzler sich auf der „Zielgeraden“ selbst in die Gespräche einschalten, da die West-SPD damit drohte, ihre Zustimmung zu verweigern, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden und ein Spitzengespräch der Parteiführungen verlangte. Die Sozialdemokraten forderten in vielen Bereichen „Nachbesserungen“ in ihrem Sinne, etwa beim Problem der offenen Vermögensfragen und den Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, sowie eine bessere Finanzausstattung der Länder und Gemeinden. Doch letztlich konnte es sich keine Seite leisten, den Vertrag zu diesem Zeitpunkt noch scheitern zu lassen.
Kompromisse
Zu klären blieb insbesondere die vorgesehene Regelung des § 218 StGB, die Hauptstadtfrage und die Finanzverteilung. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle gelang es letztlich, konsensuale Lösungen zu finden. Hinsichtlich der erforderlichen Rechtsangleichung wurde entschieden, das bundesdeutsche Recht durch eine Generalklausel auf das Gebiet der DDR zu übertragen. Die angesichts des enormen Regelungsbedarfs große Zahl der Ausnahmefälle, in denen für einen Übergangszeitraum weiter DDR-Recht gelten sollte, wurde in den Anlagen zum Vertrag festgehalten. In den Fragen, in denen volles Einvernehmen einstweilen nicht erzielt werden konnte, versuchte man, zu einer Übergangslösung zu kommen und die endgültige gesetzliche Regelung dem gesamtdeutschen Parlament zu überlassen.
In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs lief alles auf eine zweigeteilte Rechtssituation in Deutschland hinaus. In der DDR, wo die Fristenlösung galt, gab es gegensätzliche Positionen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch zwischen CDU-West und CDU-Ost. Da eine Harmonisierung vorerst nicht zu erreichen war, entschied man sich dafür, für eine Übergangszeit von zwei Jahren eine zweigeteilte Rechtssituation in Deutschland hinzunehmen, während der in der DDR die alte Regelung fortbestand, während für die westlichen Länder das bisher in der Bundesrepublik geltende Indikationsmodell in Kraft blieb. Dem gesamtdeutschen Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum Ende dieser Übergangsfrist eine Neuregelung des § 218 zu finden.
In der Frage der Hauptstadt stand für die Regierung der DDR außer Frage, dass Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz im Einigungsvertrag festgeschrieben werden solle. Jedoch waren die Meinungen auf bundesdeutscher Seite geteilt. Während die Länder fast geschlossen gegen Berlin als Sitz von Parlament und Regierung standen, gingen die Positionen pro oder contra die alte Reichshauptstadt quer durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages. SPD-Verhandlungsführer Wolfgang Clement forderte im Interesse Nordrhein-Westfalens, wenn Berlin schon Hauptstadt werde, müsse aber die Entscheidung über die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen werden. Letztlich folgte man dem Kompromissvorschlag Schäubles, im Einigungsvertrag Berlin als Hauptstadt festzulegen und die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes später zu entscheiden. Auch die DDR-Seite stimmte dieser Regelung, wenngleich widerstrebend, zu.
In der Frage der Finanzverfassung wollten die westdeutschen Länder ihren Status quo wahren und wiesen überzogene Forderungen der DDR zurück. Diese verlangten ihrerseits die sofortige Einbeziehung in den Bund-Länder-Finanzausgleich, was Schäuble mit Blick auf den eigens geschaffenen Fonds Deutsche Einheit ablehnte. Die Länderfinanzminister machten ihre Zustimmung zur Umsatzsteuerverteilung unter den neuen Ländern von detaillierten Bedingungen abhängig.
Bei den offenen Vermögensfragen erfolgte die Verständigung, in Anlage II des Einigungsvertrages die Gesetzestexte über besondere Investitionen in der DDR und die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni zur Regelung der offenen Vermögensfragen aufzunehmen, die am 12. September in einem gemeinsamen Schreiben der beiden deutschen Außenminister an die Vier Mächte bestätigt wurde. Zu den offenen Vermögensfragen zählten ca. 40-50% der gewerblichen Anlagen und 50-60% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der DDR. Die Frage, inwieweit die Alteigentümer entschädigt oder sie ihr früheres Eigentum zurückerhalten sollten, bildete einen zentralen Diskussionspunkt in den deutsch-deutschen Gesprächen, aber auch zwischen den verschiedenen Akteuren auf bundesdeutscher Seite. Zudem gab die Sowjetunion wiederholt deutlich zu verstehen, dass die zwischen 1945 und 1949 unter ihrer Federführung erfolgte Änderung der Eigentumsverhältnisse bestehen bleiben müsse. Eine Haltung, die derjenigen der Regierung de Maizière sowie der Stimmung in der DDR-Bevölkerung entsprach. Letztlich sah auch die Bundesregierung keine Möglichkeit, die auf besatzungsrechtlicher Grundlage erfolgten Enteignungen rückgängig zu machen. Stattdessen sollte das gesamtdeutsche Parlament über entsprechende Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen entscheiden. Für die nach 1949 unter dem SED-Regime erfolgten Enteignungen wünschte die Bundesregierung unter Berufung auf den Schutz des Eigentums im Grundgesetz eine Regelung nach dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“. Seitens der SPD wurde in der Endphase der Verhandlungen hingegen gefordert, auch das nach 1949 enteignete Vermögen nicht zurückzugeben und die früheren Eigentümer stattdessen mit der Zubilligung von Entschädigungsansprüchen abzufinden – eine Forderung, die seitens der DDR-Unterhändler übernommen wurde. Auf der anderen Seite gab es Kritik aus den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die wiederum den generellen Verzicht auf Restitution der unter sowjetischer Besatzungsherrschaft erfolgten Enteignungen als inakzeptabel betrachtete. Die Bundesregierung stand vor dem Dilemma, einerseits Rechtsbrüche aus 45 Jahren kommunistischer Herrschaft wiedergutmachen, andererseits aber denjenigen, die in dieser Zeit aus gutem Glauben Nutzungs- und Eigentumsrechte erworben haben, nicht neues Unrecht zufügen zu wollen. Man einigte sich schließlich darauf, für nach 1949 enteigneten Besitz grundsätzlich am Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ festzuhalten, zugleich aber beim Vorliegen eines Investitionszweckes auch Ausnahmeregelungen zuzulassen. Näheres sollte ein später zu beschließendes Gesetz regeln.
Unterzeichnung und Inkrafttreten
In den frühen Morgenstunden des 31. August konnte schließlich der Einigungsvertrag paraphiert und nach Zustimmung durch das Bundeskabinett und den Ministerrat um 13:00 Uhr von Wolfgang Schäuble und Günther Krause im Kronprinzenpalais in Berlin unterschrieben werden. Nach einigen Nachverhandlungen, die u. a. die Problematik der Stasi-Akten betrafen, stimmten der Deutsche Bundestag und die Volkskammer am 20. September und am nächsten Tag auch der Bundesrat dem Einigungsvertrag zu. Er trat am 29. September in Kraft. Damit war das Ende der DDR besiegelt. Die Regierung der DDR unterrichtete die Bundesregierung darüber offiziell in einer Note vom 1. Oktober. Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten sich mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 „beide deutschen Staaten zu einem souveränen Staat vereinigt“.
Text von Hanns Jürgen Küsters und Christopher Beckmann
2890896 -
Unterzeichnung des "Zwei-plus-Vier-Vertrages" in Moskau
Er gilt inzwischen als „Meisterwerk der Diplomatie“, wurde 2011 seitens der UNESCO in das Programm „Memory oft he World“ aufgenommen und zählt damit zum „Weltdokumentenerbe“Der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland. In die Geschichte eingegangen ist er als „Zwei-plus-Vier-Vertrag“: Der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland. In die Geschichte eingegangen ist er als „Zwei-plus-Vier-Vertrag“.
Erste Weichenstellungen
Die im Februar 1990 erfolgte Festlegung auf die von den USA, aber auch seitens der Bundesregierung favorisierte Vorgehensweise, die außen- und sicherheitspolitischen Aspekte der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in sog. Zwei-plus-Vier-Gesprächen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – zu regeln, impliziert bereits zwei wichtige Weichenstellungen: Zum einen werden der innere und der äußere Prozess der Vereinigung entkoppelt und ersterer zu einer Angelegenheit der beiden deutschen Staaten erklärt. Die Klärung der innerdeutschen Fragen erfolgt in der Folge in den zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geschlossenen Staatsverträgen: dem am 18. Mai 1990 unterzeichneten „Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ sowie dem als „Einigungsvertrag“ bekannt gewordenen „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der deutschen Einheit“ vom 31. August. Zum anderen werden die Verhandlungen auf die beiden deutschen Staaten und die vier für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges begrenzt und somit erleichtert und sicherlich auch verkürzt. Zugleich wird die Gefahr gebannt, dass eine Viermächte-Konferenz ohne direkte deutsche Beteiligung zur Lösung der deutschen Frage anberaumt wird. Vielmehr räumt die Formel „Zwei-plus-Vier“ den Deutschen gar eine gewisse Priorität ein. Umstritten ist die Beschränkung der Verhandlungsteilnehmer v. a. mit Blick auf Polen, das ein vitales Interesse an der endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hat. Die polnische Regierung wird daher als einzige über die „Zwei-plus-Vier“ hinaus an einer der Verhandlungsrunden beteiligt, ohne einen gleichberechtigten Status zu erhalten.
Einigkeit kann auch dahingehend erzielt werden, dass der auszuhandelnde Vertrag einen formellen Friedensvertrag ersetzen wird. Von dessen Aushandlung wird abgesehen, wofür verschiedene Gründe sprechen. So müssten daran theoretisch alle 65 Staaten beteiligt werden, mit denen sich Deutschland zur Zeit der Kapitulation 1945 im Kriegszustand befand. Je mehr Beteiligte aber, desto höher die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen und Verzögerungen, die die angestrebte rasche Vereinigung verhindern können. Zudem haben die vier Mächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich seit dem Potsdamer Abkommen von 1945 die ausschließliche Kompetenz über Deutschland als Ganzes inne. Die Bundesregierung hat ferner „kein Interesse daran, früheren Kriegsgegnern eine Grundlage für Reparationsansprüche zu verschaffen“ und will eine „Singularisierung und Diskriminierung“ Deutschlands ausschließen (Hanns Jürgen Küsters). Als letzte der Vier Mächte erklärt sich auch die Sowjetunion bereit, auf einen Friedensvertrag zu verzichten. Die Regelung könne auch, so heißt es aus Moskau, in einem „anderen adäquaten Dokument“ als Ergebnis der „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen erfolgen.
Verhandlungsschwerpunkte
Nach der endgültigen Festlegung auf den Verhandlungsmodus am Rande der „Open-Skies“-Konferenz von NATO und Warschauer Pakt am 13. Februar 1990 finden vier Verhandlungsrunden der Außenminister statt: Am 5. Mai in Bonn, am 22. Juni in Ost-Berlin, am 17. Juli (unter Beteiligung der Republik Polen) in Paris und schließlich am 12. September 1990 in Moskau, wo der Vertrag auch paraphiert wird. Hinzu kommen Zwei-plus-Vier-Gespräche auf Beamtenebene sowie zahllose bi-, tri- und multilaterale Verhandlungen, darunter die mittlerweile legendären sowjetisch-deutschen Verhandlungen in Moskau und im Kaukasus am 15./16. Juli 1990. Zu regeln sind der militärische und sicherheitspolitische Status des vereinigten Deutschland, die Regelung seiner Ostgrenze, die Beendigung der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes sowie die Erlangung der vollen Souveränität. Die Verhandlungen sind kompliziert, da die Sowjetunion sich schwertut, die durch den Zweiten Weltkrieg errungene Position in Europa aufzugeben und eine Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO zu akzeptieren. Dies ist aber aus Sicht der USA für ihre Zustimmung unabdingbar und auch für Bundeskanzler Helmut Kohl ist die NATO-Mitgliedschaft „kein Preis, den er für die deutsche Einheit bezahlen“ will. Auch Großbritannien und Frankreich haben z. T. erhebliche Vorbehalte, betrachten die Perspektive eines größeren Deutschland mit Sorge und nutzen u. a. den Dissens darüber, ob die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze vor oder – wie von der bundesdeutschen Seite vertreten – nach der Vereinigung solle, um die Verhandlungen zu verkomplizieren. Die Regierung Kohl will den mit der Grenzanerkennung verbundenen „Territorialverzicht Deutschlands freiwillig und nicht unter dem Diktat der Alliierten leisten“ (Küsters).
Letztlich akzeptiert die sowjetische Regierung trotz mancher Bedenken und gegen den Widerstand konservativer Kräfte im eigenen Land die anfangs strikt abgelehnte Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO. Ausschlaggebend für diesen Sinneswandel ist die Aussicht auf dringend benötigte deutsche Finanz- und Wirtschaftshilfe. Zudem erkennt der sowjetische Staats-und Parteichef Michail Gorbatschow offenbar in der Präsenz amerikanischer Truppen in Europa ein nützliches Gegengewicht zu einem neuen und mächtigeren Deutschland. Auch der sich abzeichnende Verfall ihres Bündnisses lässt das Interesse der Sowjetunion an einer direkten Verständigung mit Deutschland steigen. Und schließlich sagt die deutsche Seite eine deutliche Begrenzung ihrer Streitkräfte sowie großzügige finanzielle Hilfen für den Abzug der auf dem Gebiet der DDR stationierten sowjetischen Truppen und deren Unterbringung in der Heimat vor. Auch Polen akzeptiert schließlich auf dem dritten Treffen der Außenminister der Zwei-plus-Vier in Paris, dass der Abschluss eines deutsch-polnischen Grenzvertrages erst nach der deutschen Vereinigung erfolgt, sofern über dessen Inhalt bereits Klarheit besteht. Voraussetzung für den Erfolg ist die enge deutsch-amerikanische Abstimmung und deren weitgehende Interessenkonvergenz.
Ergebnisse
Am 12. September 1990 kann Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Kabinett feststellen, mit der am selben Tag in Moskau erfolgten Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages sei die deutsche Einheit im Einvernehmen mit allen Nachbarn erreicht worden. In der Übereinkunft werden das Staatsgebiet des vereinten Deutschland definiert und dessen Grenzen endgültig festgeschrieben. Deutschland verzichtet auf den Besitz von ABC-Waffen und reduziert und begrenzt seine Truppenstärke auf 370.000 Mann. Die sowjetischen Truppen werden das Territorium der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1994 verlassen, die Stationierung von Kernwaffen oder ausländischen Truppen dort wird ausgeschlossen. Entscheidend ist aus deutscher Sicht, dass die Viermächte-Verantwortung in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes beendet wird. Die Hauptsiegermächte verzichten auf noch bestehende Rechte aus dem Potsdamer Abkommen von 1945 und übertragen diese auf die Bundesrepublik. Das Ergebnis ist die Wiedererlangung der vollen Souveränität Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. Als der Vertrag nach der Ratifikation durch alle beteiligten Staaten am 15. März 1991 in Kraft treten kann, wird die Nachkriegsordnung mit abschließender Gültigkeit beseitigt. Die Nachkriegszeit ist zu Ende.
Text von Christopher Beckmann
Literatur:
- Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990. München 2005; Erinnerungen 1990–1994. München 2007.
- Hanns Jürgen Küsters: Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidung 1989/90. Freiburg i. Br. 2009.
- Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009.
- Werner Weidenfeld: Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Geschichte der deutsche Einheit 4). Stuttgart 1998.
- Link: Auswärtiges Amt: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag
2890904 -
Deutschland ist vereint
Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 erfüllt sich der Auftrag der Präambel, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Ein Ziel, für das Christliche Demokraten und allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl, maßgeblich gekämpft haben. Verschiedene günstige Faktoren prägen die Auslage und die Strategie zur Krisenbewältigung im Jahre 1989, die Anfang 1990 an Dynamik gewinnt und in einem plötzlichen Umschwung der Entwicklung zur schnellen inneren und äußeren Wiedervereinigung führt, wobei erhebliche Widerstände aus dem Wege geräumt werden.
Ausgangspunkt: Die Friedliche Revolution im Herbst 1989
Der Fall der Mauer am 9. November 1989 ist in seinem Ereignisablauf ein glücklicher Zufall und zu diesem Zeitpunkt von niemandem erwartet worden. Alle Regierungen trifft die Entwicklung unvorbereitet. Im Mittelpunkt steht allseits das Bestreben, alles unter Kontrolle zu halten. Eine wesentliche Voraussetzung für den friedlichen und unblutigen Verlauf des Zusammenbruchs der DDR ist der Verzicht der sowjetischen Führung auf den Einsatz militärischer Mittel. Dem folgt von Seiten des Westens der Verzicht, die Schwäche der Sowjetunion einseitig auszunutzen.
Der Wiedervereinigungsprozess vollzieht sich mit größerer Dynamik, als alle Beteiligten erwarten. In der zweiten Januarhälfte 1990 stellen die Regierungen in Bonn, Washington und Moskau die Weichen in Richtung Wiedervereinigung. Verschiedene Gründe sind dafür ausschlaggebend.
Weichenstellungen
Die Entwicklung in der DDR ist von der Unfähigkeit und dem zunehmenden Machtverfall der Regierung Hans Modrow gekennzeichnet. Sie wird inzwischen von den Bürgern nicht mehr als Macht im Staate akzeptiert. Die Stasi ist nach dem Sturm auf die Normannenstraße desavouiert. Die desolate ökonomische Lage der DDR treibt die Zahl der Übersiedler in die Bundesrepublik weiter in die Höhe. Die DDR steht unmittelbar vor dem Bankrott und benötigt dringend die Finanzhilfe der Bundesrepublik. Der Wille der Bürger, möglichst sofort in den Genuss der Freiheitsrechte und des Lebensstandards der Bundesrepublik zu gelangen, zwingt die Bundesregierung, ein neues Konzept vorzulegen.
Bundeskanzler Kohl entschließt sich zum Strategiewechsel, indem er drei Grundsatzentscheidungen trifft. Er strebt die Wiedervereinigung in Form einer bundesstaatlichen Lösung so schnell wie möglich an. Zudem will er mit dem Vorschlag einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der DDR die innerstaatliche Wiedervereinigung vorantreiben. Darüber hinaus gelingt es dem Kanzler, mit der Wahl der parteipolitischen Bündnispartner in der DDR und der Zusammenführung der Allianz für Deutschland eine Wahlkampfplattform für die Volkskammerwahlen zu schaffen und über die Parteigremien Einfluss auf die innenpolitische Entwicklung in der DDR zu erlangen. Gleichzeitig lehnt die Bundesregierung umfangreiche Wirtschafts- und Finanzhilfen für die Regierung Modrow ab, bis am 18. März 1990 in freien Wahlen die Volkskammer gewählt und eine demokratische Regierung unter Leitung von Lothar de Maizière im Amt ist.
Strategische Entscheidungen
Ebenfalls im Januar 1990 gibt auch die Regierung Bush ihre Strategie der Schritt-für-Schritt-Politik auf und drängt auf die schnelle Wiedervereinigung. In Washington beruht die veränderte Taktik auf der Überlegung, Deutschland nicht vor die Wahl „Einheit oder Allianz“ zu stellen. Hauptsorge ist, dass diese Frage überhaupt aufgeworfen wird – und erst recht nicht die Frage: „Einheit oder Allianz mit der Sowjetunion.“
Der Schlüssel zur Wiedervereinigung liegt jedoch bei Gorbatschow. Für seine Entscheidung Ende Januar 1990, den Deutschen das Selbstbestimmungsrecht zu gewähren, spielen die erhebliche finanzpolitische Zwangslage und massive Versorgungsschwierigkeiten der Sowjetunion ebenso eine Rolle wie die Erkenntnis, dass die Entwicklung in Deutschland nicht mehr aufzuhalten ist. Die Massendemonstrationen der Bürger in der DDR setzen auch Moskau unter Handlungsdruck.
Die Bundesregierung hat Anfang Februar klare Vorstellungen über Ziele, Taktik und Methoden der Wiedervereinigung. Sie strebt die Wiederherstellung der Einheit und Souveränität Deutschlands durch Ablösung sämtlicher Viermächterechte an. Einvernehmen besteht mit der Regierung Bush über die Trennung der inneren und äußeren Aspekte der Wiedervereinigung, verbunden mit einem schnellen Verhandlungstempo. Die Entscheidung, im Zwei-plus-Vier-Rahmen nur über die Ablösung der Viermächterechte zu verhandeln und die Verhandlungen über die innere Wiedervereinigung den Deutschen zu überlassen, schafft die Ausgangsbasis, die Sowjetunion unter den Vier Mächten zu isolieren. Voraussetzung ist ein zügiger Abschluss der Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion.
Die vertragliche Gestaltung der deutschen Einheit
Der Wahlsieg der Allianz für Deutschland bei den Volkskammerwahlen Mitte März 1990 wird als Erfolg des Bundeskanzlers gewertet. Damit sind letzte Zweifel an dem Willen der Deutschen zur Einheit ausgeräumt. Das Konzept der Bundesregierung geht auf. Der Abschluss des Staatsvertrages über die deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Mitte Mai 1990 garantiert der DDR umfangreiche Hilfen. Die Einführung der D-Mark in der DDR zum 1. Juli 1990 ist der erste Schritt zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Die Regierungskoalition nutzt diesen Erfolg und strebt nunmehr gesamtdeutsche Wahlen zum Zeitpunkt der fälligen Bundestagswahl Ende 1990 an. Sie geht davon aus, dass ihr die bis dahin erreichte Wiedervereinigung den Wahlsieg beschert.
Hat die Bundesregierung die Länder bisher aus den Verhandlungen mit der DDR weitgehend heraushalten können, so gelingt das bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag nicht mehr. Mit dem Sieg Gerhard Schröders bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Mai 1990 verlieren die CDU/CSU-regierten Länder im Bundesrat die Stimmenmehrheit. Außerdem benötigt die Bundesregierung für den zweiten Staatsvertrag, der die Einigung besiegeln soll und ohne Änderungen des Grundgesetzes nicht zu bewerkstelligen ist, die Stimmen der SPD für eine Zweidrittelmehrheit. Somit ist die Regierung Kohl gezwungen, sich mit den Sozialdemokraten zu arrangieren. Der Schachzug des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, die Verhandlungen über den Einigungsvertrag so weit vorzubereiten, dass alle notwendigen Prüfungen für einen Beitritt erfolgt sind, bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen, führt zum Erfolg. Es soll nur noch darüber gesprochen werden, was die beitrittswillige DDR-Regierung als verhandlungsnotwendig erachtet. Weitreichende Veränderungen an dem politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik sind nicht erforderlich. Mit dem Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes bestätigt die Bundesrepublik ihre seit vierzig Jahren vertretene Kernstaatstheorie.
Der Beitrittsbeschluss
Im Juni 1990 werden die Stimmen in der DDR nach sofortigem Beitritt immer lauter. Die Koalitionskrise der Regierung de Maizière Anfang August sowie die notwendigen Abstimmungen zwischen Bund und Ländern bestimmen die Verhandlungen über den Einigungsvertrag. Während die Bundesregierung nur das Notwendigste an der bestehenden Verfassungs- und Rechtsordnung der Bundesrepublik ändern will, sieht die Opposition ihre Chance, eine Revision des Grundgesetzes zu verlangen. Zentraler Konflikt sind die Kosten der Einheit, über deren Finanzierung Bund und Länder von Beginn an streiten. Während der Bund sich mit der Beteiligung der Länder an dem Mitte Mai 1990 vereinbarten Fonds Deutsche Einheit nicht zufriedengeben will, erkennt die DDR-Regierung zunächst nicht den Vorteil, an dem Länderfinanzausgleich beteiligt zu werden. Der Einbeziehung der in der DDR neu entstehenden Länder in dieses Ausgleichssystem stimmen die Länder der Bundesrepublik nur nach einer Übergangszeit zu. Zugleich setzen sie eine neue Stimmengewichtung im Bundesrat durch, wodurch das politische Gewicht der bevölkerungsstarken und finanzkräftigeren Länder gewahrt bleibt.
Am 23. August 1990 stimmt die Volkskammer völlig überraschend dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu und setzt den 3. Oktober als offizielles Beitrittsdatum fest, nachdem de Maizières Drängen auf vorgezogene gesamtdeutsche Wahlen am 14. Oktober gescheitert war. Am 31. August wird der Einigungsvertrag unterzeichnet. Zwei Wochen später, am 12. September, findet in Moskau die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages (eigentlich „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“) statt, nachdem sich Kohl und Gorbatschow bei ihrem Treffen im Kaukasus Mitte Juli über die Modalitäten verständigt haben.
Deutscher Nationalfeiertag: 3. Oktober
Doch warum wird der 3. Oktober 1990 zum Tag der Deutschen Einheit? Nachdem der Deutsche Bundestag und der Bundesrat sowie die Volkskammer dem Einigungsvertrag zugestimmt haben, sind die Voraussetzungen für dessen Inkrafttreten am 29. September 1990 erfüllt. Die Regierung der DDR unterrichtet die Bundesregierung darüber offiziell in einer Note vom 1. Oktober 1990.
Die Ergebnisse des Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sollen den Außenministern der KSZE-Mitgliedstaaten formell bekannt gegeben werden. Diese treten jedoch erst einen Tag nach Eröffnung der UNO-Vollversammlung am 1. Oktober, also am 2. Oktober, in New York zusammen. Folglich ergibt sich der 3. Oktober als erster Tag des wiedervereinten Deutschland, zu dem die Vier Mächte ihre Vorbehaltsrechte gegenüber Deutschland als Ganzes aufgeben, die sie am 5. Juni 1945 proklamierten. Völkerrechtlich souverän wird die Bundesrepublik Deutschland nach Ratifikation und mit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991.
Auf Vorschlag von Bundeskanzler Kohl wird statt des 17. Juni als Gedenktag für die Ereignisse des Aufstandes 1953 in der DDR nun der 3. Oktober als „Tag der Deutschen Einheit“ zum Nationalfeiertag erklärt.
Fazit
Oppositionelle Bürgerbewegungen und deren Reformbestrebungen führten zur Friedlichen Revolution 1989. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist 1990 in einem innen- und außenpolitisch enormen Kraftakt zustande gekommen, auf den die Deutschen stolz sein können.
Text von Hanns Jürgen Küsters
2890915 -
Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit
Die Deutsche Volkspolizei (DVP – meist nur Volkspolizei, VP genannt) war die Polizei der DDR. Die Staatssicherheit (kurz oft auch als „Stasi“ bezeichnet) war das wichtigste Herrschafts- und Kontrollinstrument der SED. Bereits im Juni 1945 wurde die VP in den Ländern der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. 1952 wurde in den Städten und Gemeinden das Amt des Abschnittsbevollmächtigten (ABV) geschaffen, der nach sowjetischem Vorbild die Bürger seines Zuständigkeitsbereichs beobachtete (z. B. Besucher registrierte oder die Führung der Hausbücher überwachte) und dabei oft in engem Kontakt zur Staatssicherheit stand. Zivilisten konnten als „Helfer der VP“ ehrenamtlich mitarbeiten.Die Volkspolizei unterstand dem Minister des Innern der DDR (MdI), dessen Amtsbezeichnung nach 1963 gleichzeitig „Chef der Deutschen Volkspolizei“ lautete. Administrative Untergliederungen waren die Bezirksbehörden der DVP (BDVP) in allen Bezirksstädten und die VP-Kreisämter (VPKA) in den Kreisstädten.
Die Volkspolizei teilte sich in die Dienstzweige Schutzpolizei, Verkehrspolizei, Wasserschutzpolizei, Kriminalpolizei und Transportpolizei. Letztere war für die Sicherung der Bahnhöfe und Anlagen der Deutschen Reichsbahn zuständig. Außerdem unterstand das gesamte Meldewesen als Abteilung Pass- und Meldewesen der Volkspolizei. Um ihre militärische Gliederung als „bewaffnetes Organ“ zu unterstreichen, trugen die Angehörigen der VP militärische Dienstgradbezeichnungen.
Die zur Volkspolizei gehörenden kasernierten Einheiten (Kasernierte Einheiten des Ministeriums des Innern) bestanden aus den 21 VP-Bereitschaften, den acht (später nur noch sieben) Kompanien Transportpolizei-Bereitschaften, der Hubschraubereinheit, der Anti-Terror-Einheit 9. Kompanie, der Dienststelle Blumberg (Betreibung und Sicherung einer Ausweichführungsstelle des Ministeriums des Innern in Freudenberg) und der 10. Kompanie (Transport, Verpflegung u.a.). Deren Angehörige leisteten Wehrdienst und wurden über die Wehrkreiskommandos eingezogen und als Reservisten der NVA entlassen. Wie das Ministerium für Staatssicherheit arbeitete die VP mit inoffiziellen kriminalpolizeilichen Mitarbeitern (IKM). Zuständig für die Führung der IKM war das Arbeitsgebiet I (politische Polizei) der Kriminalpolizei, deren Mitarbeiter durch MfS-Offiziere geführt wurden.
Mit Gesetz vom 8. Februar 1950 wurde das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gegründet, das im Juli 1953 als Folge des Juni-Aufstandes dem Ministerium des Inneren (MdI) als Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) angegliedert, aber bereits im November 1954 wieder zum eigenständigen Ministerium gemacht wurde. Offiziell verstand es sich als „ein Organ des Ministerrates der DDR, dem spezielle Sicherheits- und Rechtspflegeaufgaben für den zuverlässigen Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung gegen alle feindlichen Anschläge auf die Souveränität und territoriale Integrität der DDR, auf sozialistische Errungenschaften und das friedliche Leben des Volkes übertragen wurden“.
Ministerium für Staatssicherheit
Die Staatssicherheit (kurz oft auch als „Stasi“ bezeichnet) war das wichtigste Herrschafts- und Kontrollinstrument der SED. „Schild und Schwert der Partei“ hieß das MfS daher auch im ideologischen Sprachgebrauch. Von 1957 bis 1989 stand das MfS unter der Führung von Erich Mielke; als langjähriger Chef der Auslandsspionage war Markus Wolf ein weiterer führender Mitarbeiter, der freilich in der Öffentlichkeit kaum bekannt war.
Die Kompetenzen des MfS umfassten die Aufgaben einer politischen Geheimpolizei, einer mit exekutiven Befugnissen ausgestatteten Untersuchungsbehörde für politische Strafsachen und eines geheimen Nachrichtendienstes. Der Verfügungstruppe des MfS, dem Wachregiment „Feliks E. Dzierzynski“ (benannt nach dem Gründer des sowjetischen Geheimdienstes Tscheka), wurden spezielle Repressions- und Objektsicherungsaufgaben übertragen.
Das MfS mit seiner Zentrale in Berlin-Lichtenberg gliederte sich intern in die Hauptabteilungen und Abteilungen des Abwehrsektors sowie in die Hauptabteilungen Aufklärung und Bewirtschaftung. Die territoriale Gliederung ging von der Verwaltung in Berlin aus, stützte sich auf 14 Bezirksverwaltungen und auf die Objektverwaltung Wismut. Weiter gab es etwa 250 Kreis- und Objektdienststellen (z. B. in Großbetrieben), die den Bezirksverwaltungen nachgeordnet waren.
Zu den Mitarbeitern der Staatssicherheit zählten militärische Dienstgrade tragende hauptamtliche Mitarbeiter sowie Zivilisten, zudem eine Vielzahl „inoffizieller Mitarbeiter“ sowie „gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“, die aus allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft kamen. Diese Mitarbeiter wurden teils auf materieller Basis (Bezahlung, berufliche Förderung), teils durch politische Überzeugung und oft auch durch Nötigung und Erpressung zu regelmäßiger Mitarbeit verpflichtet. Im offiziellen Sprachgebrauch des MfS zog man diese Art Mitarbeiter zur politisch-operativen Arbeit hinzu. Weiter diente die planmäßige und gezielte Kontrolle des Post- und Fernmeldeverkehrs durch spezielle Diensteinheiten des MfS der Abschirmung und Überwachung.
Die Hauptverwaltung Aufklärung hatte als Schwerpunktaufgabe eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Aufklärung zu leisten. Für die Ermittlungsverfahren bei Staatsverbrechen und bei politischen Militärstrafsachen waren die Untersuchungsorgane des MfS zuständig, die über zwei zentrale Untersuchungsgefängnisse in Berlin-Lichtenberg und in Berlin-Hohenschönhausen sowie über weitere Gefängnisse in den Bezirksstädten verfügten.Die „Juristische Hochschule Potsdam“ als zentrale Schulungseinrichtung bot Mitarbeitern des MfS sowohl ein Direkt- als auch ein Fernstudium mit einem Abschluss als Diplom-Jurist an. In ihren Diplomarbeiten und Dissertationen erarbeiteten die Studenten beispielsweise Methoden zur Überwachung und gar Liquidierung des Gegners. Mit der Sportvereinigung (SV) Dynamo verfügten Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst zudem über eine eigene Sporteinrichtung mit zentralem Sportforum in Berlin-Hohenschönhausen. Erich Mielke hatte auch auf den Sport großen Einfluss – als Vorsitzender des BFC Dynamo sorgte er für zehn Meistertitel in der DDR-Fußball-Oberliga.
Online-Leseempfehlung
Auswahlbibliografie: Die DDR-Staatssicherheit, Bibliothek der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin, 1. Okt. 2008.
2891185 -
Jakob Kaiser wird Minister für Gesamtdeutsche Fragen im ersten Kabinett Adenauer
Der gelernte Buchbinder Jakob Kaiser hat sich früh in der christlichen Gewerkschaftsbewegung engagiert und es dort zu hohen Ämtern gebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den profiliertesten Mitgründern der CDU; wie viele von ihnen kam er aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Als Vorsitzender der CDU in der SBZ widersetzte sich Jakob Kaiser dem kommunistischen Gleichschaltungsdruck von Sowjets und SED. Kernelemente seiner Politik waren der nationale und der soziale Gedanke. Die ideologischen Gegensätze zwischen West und Ost wollte er überbrücken, die deutsche Wiedervereinigung war sein Hauptziel. Der CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnte Kaisers Brücke-Konzept und seine Bevorzugung des Wiedervereinigungsgedankens gegenüber der Westbindungspolitik ab; er wurde von daher zu seinem beharrlichsten innerparteilichen und letztlich obsiegenden Gegner.
Kindheit, Jugend und Ausbildung
Jakob Kaiser stammte aus Hammelburg im bayerischen Unterfranken. Dort wurde er am 8. Februar 1888, im sog. Dreikaiserjahr, als zweites von 10 Kindern geboren. Das Elternhaus war von Fleiß, Disziplin und katholischer Frömmigkeit geprägt. Der Vater war Buchbindermeister und dazu in verschiedenen kommunalen Ämtern tätig.
Nach Volksschule und dreijähriger Fortbildungsschule absolvierte Kaiser eine Lehre im väterlichen Betrieb und besuchte danach die Buchbinderfachschule in Schwiebus bei Frankfurt an der Oder. Nach einigen Berufsjahren in einer Nürnberger Großbuchbinderei und Ableistung des Militärdienstes (1908-1910) leitete er von 1912 bis zum Kriegsausbruch 1914 das Sekretariat des Kölner Kartells der Christlichen Gewerkschaften. Von früher Jugend an hatte er ein starkes Interesse an sozialen Fragen gezeigt und sich beizeiten im katholischen Verbandswesen engagiert – u. a. im Kolpingverein und im Volksverein für das katholische Deutschland.
Beruflicher Aufstieg und politische Orientierung
In den Ersten Weltkrieg zog Kaiser, staatstreu und monarchistisch gesonnen, wie die Mehrheit seiner Altersgenossen mit patriotischem Stolz. Er kam sowohl an der West- wie an der Ostfront zum Einsatz und zog sich mehrere Verwundungen zu. Nach dem Krieg setzte er zunächst seine Tätigkeit als Geschäftsführer des Kölner Gewerkschaftskartells fort. In der Weimarer Republik erlebte Kaiser einen raschen Aufstieg in der christlichen Gewerkschaftsbewegung und im katholischen Zentrum. Er wurde Geschäftsführer des Generalsekretariats im Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften in Berlin. Doch schon 1924 kam er als Landesgeschäftsführer der Christlichen Gewerkschaften für Rheinland und Westfalen zurück nach Köln. Im Rheinland begann auch sein politischer Aufstieg: Von 1921 bis 1933 war er dort Stellvertretender Vorsitzender der Zentrumspartei, der er 1912 beigetreten war. Von 1928 bis 1933 gehörte er dem Geschäftsführenden Reichsvorstand des Zentrums an.
In Jakob Kaisers politischem Denken und Handeln stachen der nationale und der soziale Zug hervor. Vaterländische Gesinnung und Religion galten ihm alles, dabei zeigte er einen Hang zum Pathos und zu preußisch-soldatischer Haltung. Als ausgeprägter Monarchist begegnete er der Weimarer Republik zunächst mit Skepsis, bekannte sich aber seit Mitte der 1920er Jahre offen zu ihr. Gesellschaftspolitisch stand er fest auf dem Boden der katholischen Soziallehre. Als christlicher Gewerkschafter und katholischer Zentrumsmann sah er seine Hauptaufgabe darin – wie er später einmal gegenüber Konrad Adenauer formulierte –, „die Arbeiterschaft aus den Kellerräumen der Gesellschaft in die Volksordnung“ zu holen; hier wird der ausgeprägte Wunsch nach einer national-sozialen Synthese klar erkennbar. Kaiser suchte einen Mittelweg zwischen individualistischem Kapitalismus und marxistisch-kollektivistischem Sozialismus. „Die katholische Ethik und der Geist des gewerkschaftlichen Sozialismus“ bestimmten sein Denken (Hacke, 49). Er hatte schon sehr früh die Idee einer überkonfessionellen, christlich-sozial und national orientierten, undogmatisch-sozialistischen Partei nach dem Muster der englischen Labour Party vor Augen. Er war überzeugt, dass nur eine solche Partei das zersplitterte deutsche Parteienwesen konsolidieren, einen starken, demokratisch verfassten Staat garantieren und dem klassenkämpferischen Marxismus Einhalt gebieten könne. Mit solchen sozialpolitischen Vorstellungen gehörte Kaiser zum linken Flügel des Zentrums.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Anfang März 1933 wurde Jakob Kaiser in den Reichstag gewählt. Er zählte dort zu jenen Zentrumsabgeordneten, die sich gegen innere Überzeugung der Fraktionsmehrheit beugten und am 24. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmten, das einer Selbstentmachtung des Parlaments gleichkam; er hat dies später immer als schwere moralische Schuld empfunden (Kosthorst, 172). Kaiser erkannte von Anfang an den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, hoffte aber eine Zeitlang wie Reichskanzler Brüning, die Nationalsozialisten in der Regierungsverantwortung „zähmen“ zu können. Als ein Mittel dazu sah er den Zusammenschluss der großen demokratischen Richtungsgesellschaften und organisierte zu diesem Zweck zusammen mit bedeutenden Gewerkschaftsführern wie Wilhelm Leuschner, Ernst Lemmer und Max Habermann den sog. „Führerkreis der vereinigten Gewerkschaften“ (Mayer, 2004, 325). Doch schon Anfang Mai 1933 gliederte Hitler die freien Gewerkschaften zwangsweise in die „Deutsche Arbeitsfront“ ein; jegliche weitere Gewerkschaftstätigkeit war damit verboten.
Kaisers berufliche Aufgabe bestand fortan darin, Versorgungsansprüche der ehemaligen Gewerkschaftsangestellten gegenüber dem NS-Staat geltend zu machen. Er kam dabei viel im Reich herum und hatte Gelegenheit, „ein breit gefächertes Netz von Widerstandskreisen aufzubauen“ (Mayer, 2004, 325). Er kam in engeren Kontakt mit dem Kreis um Carl Friedrich Goerdeler, aber auch mit oppositionellen Wehrmachtskreisen um Claus Graf Schenk von Stauffenberg und mit katholischen Widerständlern wie Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß. 1938 war er wegen des Verdachts des Hoch- und Landesverrats einmal kurzzeitig verhaftet. Nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 tauchte er unter und hielt sich bis Kriegsende in einem Keller in Babelsberg versteckt.
Mitgründer und Vorsitzender der CDU in der SBZ
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Jakob Kaiser zu den führenden Mitgründern der CDU in Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone; er wurde zum 3. Vorsitzenden gewählt. Wie er kamen viele Gründungsmitglieder der neuen, überkonfessionellen Partei aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Als die beiden Ersten Vorsitzenden, Andreas Hermes und Walther Schreiber, wegen ihres Widerstandes gegen die mit brutaler Härte durchgeführte sozialistische Bodenreform bereits Ende Dezember 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht abgesetzt wurden, übernahm Kaiser zusammen mit Ernst Lemmer die Leitung der Partei. In seiner ersten programmatischen Rede als Vorsitzender proklamierte er am 13. Februar 1946 das Modell eines „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“, das er beim 1. Parteitag der SBZ-CDU vom 15.-17. Juni 1946 in Berlin ausführte; die Grundzüge waren bereits im Berliner Gründungsaufruf der CDU vom 26. Juni 1945 angeklungen: betriebliche Mitbestimmung, straffe Planung des Wirtschaftslebens, Verstaatlichung der Bodenschätze und wichtiger Industriezweige. Kaiser war wegen der ausgeprägt sozialen Züge seiner Politik bei den Sowjets anfangs durchaus beliebt. Doch mussten diese bald erkennen, dass sein „Christlicher Sozialismus“ mit dem klassenkämpferischen und atheistischen Marxismus nichts gemein hatte. Beim 2. CDU-Parteitag im September 1947 in Berlin beschwor Kaiser seine Partei, „Wellenbrecher des dogmatischen Marxismus und seiner totalitären Tendenzen“ zu sein. Sehr zum Unwillen der Sowjets trat er für den Marshall-Plan ein, lehnte die Oder/Neiße-Linie als polnische Westgrenze ab und stemmte sich dem Gleichschaltungsdruck entgegen, den Besatzungsmacht und SED auf die bürgerlichen Parteien ausübten.
Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht und den Führungsanspruch der SED
Zum entscheidenden Bruch mit der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED und schließlich zur Entlassung Kaisers und Lemmers kam es in der Frage der Volkskongressbewegung. Auf Initiative der SED sollte am 6./7. Dezember 1947 in Berlin ein „Deutscher Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden“ stattfinden, bei dem Parteien, Organisationen und Großbetriebe der SBZ über Wege zur überzonalen Zusammenarbeit und zur Wiedervereinigung beraten sollten. Obwohl Kaiser und Lemmer die Intention generell begrüßten, lehnten sie eine Teilnahme der Zonen-CDU am Volkskongress ab. Insbesondere Kaiser sah in der Volkskongressidee den Plan der SED, die Führungsrolle, die sie in der SBZ mit den Sowjets im Rücken schon innehatte, auf die übrigen Zonen auszudehnen. Nach seiner Einschätzung konnte der Volkskongress keinen wirklich gesamtdeutschen und überparteilichen Charakter haben. Im Blick auf die Ende September 1947 von den Sowjets offiziell verkündete „Zwei-Lager-Theorie“, nach der eine neutrale Haltung in der weltpolitischen Auseinandersetzung der Blöcke unmöglich sei, konnte in Kaisers Augen das Ziel des Volkskongresses nur die Ausweitung des sowjetischen Einflusses auf ganz Deutschland oder die Teilung des Landes sein.
Kaiser wollte es in der Volkskongressfrage auf einen Bruch mit den Sowjets ankommen lassen. Diese verlangten von den CDU-Landesvorsitzenden ultimativ die Trennung von ihrem Zonenvorstand, den diese in Sorge um den Fortbestand ihrer Partei am 20. Dezember 1947 auch vollzogen. Mit Kaisers Entlassung und der zunehmenden Verschärfung der Ost/West-Gegensätze im Verlauf des Jahres 1947 war auch sein Brücke-Konzept gescheitert – die Vorstellung, ein blockfreies Deutschland könne Brücke sein zwischen den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in Ost und West und zwischen ihnen Ausgleich und Annäherung bewirken. Auf die Geschicke der Zonen-CDU versuchten Kaiser und sein Kreis fortan von West-Berlin aus Einfluss zu nehmen. Aus dem dort eingerichteten „Büro Kaiser“ konstituierte sich 1950 offiziell die Exil-CDU, die sich als einzig legaler Hauptvorstand der CDU in der SBZ verstand und deren erster Vorsitzender Jakob Kaiser wurde.
Parlamentarischer Rat, Deutscher Bundestag und Ministeramt
Von 1946 bis 1949 hatte Jakob Kaiser ein Mandat zu der Berliner Stadtverordnetenversammlung inne. Fünf ihrer Mitglieder wurden im Sommer 1948 zum Parlamentarischen Rat nach Bonn entsandt; Kaiser gehörte darunter als einziger der CDU an. Zwar bedauerte er, dass die Berliner Vertreter in diesem Gremium, das auf Anweisung der drei Westmächte das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erarbeiten sollte, kein Stimmrecht hatten. Gleichwohl hielt er die Beteiligung Berlins für „eine politische Tat ersten Ranges“. Sie vermittle das Gefühl unmittelbarer Zugehörigkeit Berlins mit dem gesamten Deutschland. Wegen der zentralen Rolle, die Berlin in den Augen des Wahlberliners Kaiser in der Übergangszeit der Teilung und dann auch später in einem geeinten Deutschland zukam, setzte er sich immer wieder für eine gleichberechtigte Stellung Berlins gegenüber den übrigen Bundesländern ein. Er dachte Deutschland gleichsam von Berlin aus (Hacke, 54).
Im Sommer 1949 wurde Kaiser zum Vorsitzenden der Sozialausschüsse der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft gewählt. Im September desselben Jahres zog er mit einem Direktmandat eines Essener Wahlkreises in den Deutschen Bundestag ein, dem er bis zu seiner Erkrankung 1957 angehörte. Schon im Wahlkampf hatte Konrad Adenauer ihm auf sein Drängen die Bildung eines „Ostministeriums“ versprochen, falls er selbst Bundeskanzler würde; er nahm Kaiser dann als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen in sein Kabinett auf. Kaiser hatte in diesen Jahren als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und als Symbolgestalt des nationalen Einheitswillens eine starke Machtbasis in der CDU; er konnte sie mit seiner Wahl zu einem der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden 1950 bestätigen (Agethen, 2008, 190).
Verhältnis zu Bundeskanzler Adenauer
Das Verhältnis zwischen Bundeskanzler Adenauer und seinem Minister war nicht reibungsfrei. Beide waren sich einig in der Bedeutung der Westbindung der Bundesrepublik; Kaiser sah sie als Basis und Stabilisator für seine Wiedervereinigungsbemühungen. Anders als Adenauer räumte er letzteren aber im Konfliktfall die Priorität ein und suchte über Parteigrenzen hinweg den Konsens in der Deutschlandpolitik. Beides konnte Adenauer nicht recht sein; er hielt Kaiser deshalb von wichtigen deutschland- und ostpolitischen Angelegenheiten fern. Kaisers Rat, die Stalin-Noten des Jahres 1952 mit ihrem Wiedervereinigungsangebot für ein neutralisiertes Deutschland gründlich zu prüfen, folgte Adenauer nicht. Bei seiner Moskau-Reise 1955 verzichtete er auf Kaisers Begleitung, weil es vor allem um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion gehen sollte, die dieser ablehnte.
Auch in der Saarfrage stimmten Kaiser und der Bundeskanzler nicht überein. Die von Adenauer mit dem Saarstatut angestrebte Europäisierung des Saarlandes konnte dem deutschen Patrioten Kaiser nicht recht sein. Er unterstützte gegen Adenauer alle politischen Kräfte, die für eine Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik eintraten. Als dann das Saarstatut qua Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 scheiterte und Frankreich am 1. Januar 1957 das Saargebiet an Deutschland zurückgab, feierte Kaiser dies als „kleine Wiedervereinigung“ und als Sieg über den Bundeskanzler. Sein Engagement trug ihm später eine Ehrenbürgerschaft von Homburg/Saar ein. Gegen Adenauer bzw. gegen die Stagnation in dessen Deutschlandpolitik war auch Kaisers Beteiligung an der Gründung des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland“ gerichtet, das parteiübergreifend den Wiedervereinigungsgedanken propagierte.
Familie, Krankheit und Tod
Jakob Kaiser war seit 1918 in erster Ehe mit Therese Mohr verheiratet; aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor. Nach dem Tod seiner Frau schloss er 1953 eine zweite Ehe mit Elfriede Nebgen, seiner Kampfgefährtin gegen die NS-Diktatur und Mitgründerin der CDU in Berlin. Im Januar 1957 erlitt Kaiser nach einer Herzattacke einen Schlaganfall, bald darauf einen zweiten, der ihn lähmte und ans Bett fesselte. Er starb am 7. Mai 1961 in seiner Wahlheimat Berlin. Zuvor war er noch zum Ehrenvorsitzenden der CDU sowie zum Ehrenbürger von Berlin ernannt worden.
Text von Manfred Agethen
Quellen
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Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Sankt Augustin, Zentralbestand Ost-CDU 07-010 bis 013, Bestand Exil-CDU 03-013
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Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Jakob Kaiser N 1018
Lebenslauf
8.2.1888
Geboren in Hammelburg/Ufr.; röm.-kath.
1894 - 1901
Volksschule und Fortbildungsschule
1901 - 1904
Buchbinderlehre im väterlichen Betrieb mit Gesellenprüfung
1904
Buchbinderfachschule in Schwiebus bei Frankfurt/Oder
1904
Eintritt in den Katholischen Gesellenverein
1906
Eintritt in den Volksverein für das katholische Deutschland und in den Graphischen Zentralverband der Christlichen Gewerkschaften
1906 - 1912
Tätigkeit in der Großbuchbinderei Arndt und Kaltmaier in Nürnberg
1908 - 1910
Ableistung des Militärdienstes beim Königlich-Bayerischen Infanterieregiment Nr. 14
1912
Eintritt in die Zentrumspartei
1912 - 1914
Leiter des Sekretariats des Kölner Kartells der Christlichen Gewerkschaften
1914 - 1917
Unteroffizier im Ersten Weltkrieg; schwere Verwundungen 1914 (bei Sedan) und 1917 (in Flandern)
1918
Erneut Leitung des Sekretariats des Kölner Kartells der Christlichen Gewerkschaften
1918
Heirat mit Therese Mohr (1889-1952); zwei Töchter
1919 - 1924
Geschäftsführer des Generalsekretariats im Gesamt-Verband der Christlichen Gewerkschaften in Köln (ab 1921 in Berlin)
1921 - 1933
Stellv. Vorsitzender der Rheinischen Zentrumspartei
1924 - 1933
Landesgeschäftsführer der Christlichen Gewerkschaften für Rheinland und Westfalen
1928 - 1933
Mitglied im Geschäftsführenden Reichsvorstand der Zentrumspartei
1933
Reichstagsmandat bei den Wahlen vom 5. März
1933
Anfang Mai Verbot der freien Gewerkschaften; Absetzung Kaisers als Landesgeschäftsführer. Vertretung der Rechtsansprüche der ehemaligen Gewerkschaftsangestellten gegenüber dem Staat
1934 - 1944
Kontakte mit Widerstandskreisen gegen den Nationalsozialismus
1938
Zeitweilige Haft wegen des Verdachts des Hoch- und Landes-Verrats
1945
Mitgründer der CDU in Berlin und in der Sowjetischen Besatzungs-Zone (SBZ)
1945 - 1947
Vorsitzender der CDU in der SBZ (seit Dez. 1945)
1946 - 1949
Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung
1948 - 1949
Als Vertreter Berlins Abgeordneter im Parlamentarischen Rat
1949 - 1958
Vorsitzender der Sozialausschüsse der CDU
1949 - 1957
Mitglied des Deutschen Bundestages (Wahlkreis 91, Essen III)
1949 - 1957
Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen
1950 - 1958
Stellv. Vorsitzender der CDU
1950 - 1961
Vorsitzender der Exil-CDU
1953
Heirat mit Elfriede Nebgen (1890-1983)
1954
Mitgründer des Kuratoriums Unteilbares Deutschland
7.5.1961
Gestorben in Berlin
Veröffentlichungen
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Hacke, Christian (Hrsg.): Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik. Köln 1988.
-
Mayer, Tilman (Hrsg.): Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot. Eine Werkauswahl. Köln 1988.
Literatur
-
Agethen, Manfred: Die CDU in der SBZ/DDR 1945 – 1953. In: Jürgen Frölich (Hrsg.): „Bürgerliche“ Parteien in der SBZ/DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953. Köln 1994, S. 47-72.
-
Agethen, Manfred: Jakob Kaiser (1888-1961). Christlicher Gewerkschafter, Berlin. In: Günter Buchstab/Hans-Otto Kleinmann (Hrsg.): In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49; hrsg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Freiburg/Basel/Wien 2008, S. 181-192.
-
Becker, Josef: Jakob Kaiser. In: Walther L. Bernecker/Volker Dotterweich (Hrsg.): Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Porträts, Bd. 1 (Uni-Taschebücher; 1220). Göttingen 1982, S. 210-220.
-
Hacke, Christian: Jakob Kaiser (1888-1961). In: Torsten Oppelland (Hrsg.): Deutsche Politiker 1949-1969. 17 biographische Skizzen aus Ost und West. Darmstadt 1999, S. 48-59.
-
Conze, Werner: Jakob Kaiser. Politiker zwischen Ost und West 1945-1949. Stuttgart (u.a.) 1969.
-
Kosthorst, Erich: Jakob Kaiser. Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen 1949-1957. Stuttgart (u.a.) 1972.
-
Mayer, Tilman: Jakob Kaiser (1888-1961). Vorsitzender der CDU in der SBZ; Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. In: Günter Buchstab/Brigitte Kaff/ Hans-Otto Kleinmann (Hrsg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union; hrsg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Freiburg/Basel/Wien 2004, S. 324-329.
-
Nebgen, Elfriede: Jakob Kaiser. Der Widerstandskämpfer. 2. Aufl. Stuttgart 1970.
2891295 -
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Bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht
Am 8. Mai 1945 endete offiziell der Zweite Weltkrieg in Europa. Kapituliert hatte die Wehrmacht bereits am Vortag in Reims. Die Sowjets bestanden aber darauf, dass die deutschen Truppen auch ihnen gegenüber die Waffen niederlegten. Im Offizierskasino der Pionierschule 1 in Berlin-Karlshorst unterzeichnete deshalb Generalfeldmarschall Keitel in der Nacht zum 9. Mai die bedingungslose Kapitulation.
Über zwölf Jahre nach der Machtergreifung Adolf Hitlers war der Nationalsozialismus damit Geschichte. Er hatte schreckliche Folgen hinterlassen: Weite Teile Europas waren zerstört, Millionen von Menschen waren obdachlos, über 60 Millionen hatten im Krieg ihr Leben verloren – mehr als in jedem anderen Krieg der Menschheitsgeschichte. Aus allen Schrecken aber ragte die Vernichtung der europäischen Juden hervor. Ungefähr sechs Millionen von ihnen waren den Mordkommandos der SS oder den Vernichtungslagern zum Opfer gefallen, einige wenige hatten es geschafft, sich rechtzeitig durch Flucht in Sicherheit zu bringen. Viele von ihnen kehrten nicht in ihre Heimatländer zurück. Eine zweitausend Jahre lange Kultur jüdischen Lebens in Europa war unwiderruflich zerstört.
Deutschland, das Land, von dem aus die Katastrophe ihren Ausgang genommen hatte, lag am Boden. Es war vollständig von seinen ehemaligen Kriegsgegnern, den USA, Großbritannien und der Sowjetunion, besetzt. In der vom 17. Juli bis 2. August 1945 stattfindenden Potsdamer Konferenz berieten diese über das Schicksal des Landes. Mehr als 10 Millionen Deutsche befanden sich in alliierter Kriegsgefangenschaft, die letzten von ihnen sollten erst über zehn Jahre später aus der Sowjetunion zurückkehren. Zudem waren mehr als sieben Millionen aus ihrer Heimat im Osten geflohen oder vertrieben worden. Bis 1947 würden insgesamt über 12 Millionen Deutsche ihre angestammten Wohnorte verlassen müssen.
Überdies hatten viele Deutsche bis zum Schluss an Hitler und sein Versprechen eines „Endsieges“ geglaubt und fühlten sich nun betrogen. Dennoch dürfte zumindest die Erleichterung über das Ende der Kämpfe sehr weit verbreitet gewesen sein, zumal bereits der Kriegsausbruch 1939 keine Begeisterung in der Bevölkerung ausgelöst hatte.
Befreit allerdings dürften sich damals nur die wenigsten gefühlt haben. Zu ungewiss war das weitere Schicksal des Landes und jedes Einzelnen, nicht zuletzt, weil auch nach Kriegsende die Gewalt allgegenwärtig war. Insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone waren Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen an der Tagesordnung. Zudem hatten die Alliierten für die Befreiung Europas von der deutschen Schreckensherrschaft und nicht für die Befreiung Deutschlands gekämpft. Es war wenig verwunderlich, dass die meisten Deutschen das nicht anders sahen.
Es vergingen Jahrzehnte, ehe sich dieses Bild langsam wandelte. Wichtigster Grund war neben der immer besseren Erforschung des Dritten Reichs und der damit einhergehenden Verbreitung des wahren Charakters der NS-Diktatur vor allem die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Während der Topos von der „Befreiung vom Faschismus“ in der DDR von Beginn an Teil der Staatsräson war, obwohl diese Befreiung nicht die Freiheit, sondern eine neue, wenngleich in ihrem Schrecken nicht vergleichbare Diktatur gebracht hatte, formulierten die politischen Eliten im demokratischen Westdeutschland vorsichtiger. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss sprach 1946 von der „fragwürdigsten Paradoxie der Geschichte“. Deutschland sei „erlöst und vernichtet in einem“.
Mit zunehmender Prosperität der Bundesrepublik, mit wachsender Akzeptanz für Demokratie und Soziale Marktwirtschaft, reifte auch in der Bevölkerung die Erkenntnis, dass der 8. Mai 1945 nicht so sehr das Ende des Deutschen Reichs, sondern vielmehr der Anfang des besten Staates auf deutschem Boden gewesen war. Das galt jedoch nur für den westlichen Teil Deutschlands, nicht für die DDR. Helmut Kohl fasste dies in seiner Rede, die er am 21. April 1985 im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen hielt, prägnant zusammen: „Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Nicht allen aber verhieß er, wie es sich rasch erwies, neue Freiheit.“ Wenig später sprach auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vom 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“.
Heute, 70 Jahre nach diesem Ereignis, dürfte wohl kaum jemand in Frage stellen, dass der Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht nur für Europa und die Welt, sondern auch für die Deutschen selbst ein Segen war. Dies gilt umso mehr, seit dank der Wiedervereinigung 1990 alle Deutschen in einem demokratischen Staat in Freiheit und Wohlstand leben können.
Alexander Brakel
2891585 -
„Stalin Note“ zur deutschen Frage an die Westmächte
Stalins Angebot wirkte verlockend auf viele Deutsche, die unter der Teilung zu leiden hatten: Die Sowjetunion bot den Westmächten ein neutrales Gesamtdeutschland an, mit dem ein Friedensvertrag abgeschlossen werden sollte. Zeitgenössisch wie historiographisch entstand eine Kontroverse, ob diese sogenannte Stalin-Note ein ernst gemeintes Angebot oder lediglich ein Propagandatrick gewesen sei. Westintegration vs. Blockfreiheit
Ein Kernanliegen der 1949 gegründeten Bundesrepublik war die Überwindung der deutschen Teilung, so dass auch im Grundgesetz das Wiedervereinigungsgebot festgeschrieben wurde. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer konnte die Einheit nur in Freiheit vollzogen werden. Um die Freiheit gegenüber dem sowjetischen Expansionsdrang zu sichern, setzte er konsequent auf die Integration der Bundesrepublik in den Westen. Nur ein starker Westen sei in der Lage, mit der Sowjetunion erfolgreich über die Einheit zu verhandeln und eine Sogwirkung auf die kommunistischen Staaten im Osten auszuüben. Anfang der 1950er stand ein wichtiger Durchbruch der Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Staatenwelt bevor, die Adenauer konsequent vorangetrieben hatte: Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sah die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im europäischen Rahmen vor. Durch den gleichzeitig zu verabschiedenden Deutschlandvertrag sollte die Bundesrepublik – wenn auch mit Einschränkungen – souverän werden.
Aus geostrategischen Gründen bemühte sich die Sowjetunion darum, die Westintegration der Bundesrepublik zu behindern. Ein Ansatzpunkt für sowjetische Störmanöver in Hinblick auf die Westverträge bot die innenpolitische Kontroverse um die richtige Deutschlandpolitik innerhalb der Bundesrepublik. Eine bedeutende Strömung, die insbesondere Zulauf aus der sozialdemokratischen Opposition sowie aus gewerkschaftlichen, kommunistischen und protestantisch-bürgerlichen Kreisen erhielt, wandte sich gegen Adenauers Westbindungs- und Wiederbewaffnungspolitik, da sie dadurch eine Verschärfung der Teilung und eine Steigerung der Kriegsgefahr befürchtete. Sie setzte sich stattdessen für ein neutrales Gesamtdeutschland ein. Bereits seit 1951 gab es in Moskau Überlegungen, diese westdeutschen Neutralismustendenzen zu unterstützen, um gegen die geplante Wiederbewaffnung vorzugehen und Unzufriedenheit mit der Regierung Adenauer zu schüren. Das SED-Regime unter Walter Ulbricht war der Sowjetunion bei diesen Überlegungen ein williger Juniorpartner.
Im Herbst/Winter 1951 rief die SED unter dem Schlagwort „Deutsche an einen Tisch“ zu deutsch-deutschen Verhandlungen über freie Wahlen auf. Adenauer lehnte deutsch-deutsche Verhandlungen ab, da er die DDR als nicht legitimes Unrechtsregime betrachtete und daher nur die Bundesregierung als berechtigt ansah, alle Deutschen zu vertreten. Direkte Verhandlungen mit der DDR hätten diesen Alleinvertretungsanspruch in Frage gestellt und als Anerkennung des SED-Regimes ausgelegt werden können. Da Adenauer allerdings freie Wahlen immer als die Voraussetzung für die Einheit gefordert hatte, rief die Bundesregierung die DDR auf, eine Kommission der Vereinten Nationen zur Prüfung von gesamtdeutschen Wahlen zuzulassen. Die DDR verweigerte dieser Kommission jedoch die Einreise. Um die Forderung der Bundesregierung nach freien Wahlen zu kontern, schlug die DDR daraufhin in Absprache mit Moskau den vier Hauptsiegermächten (Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich) die Erarbeitung eines Friedensvertrags vor. Ein Friedensvertrag mit den ehemaligen Kriegsgegnern, der auch die offenen Grenzfragen regeln würde, konnte nach Adenauers Ansicht allerdings nur mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Regierung geschlossen werden.
Inhalt der Note vom 10. März 1952
Am 10. März 1952 nahm die Sowjetunion den Ruf der DDR nach einem Friedensvertrag auf, indem sie den Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs eine Note übergab, in der die Schaffung eines neutralen Gesamtdeutschlands vorgeschlagen wurde. Unter Beteiligung der gesamtdeutschen Regierung sollte ein Friedensvertrag auf Grundlage des Potsdamer Abkommens von 1945 ausgearbeitet werden. Ein Entwurf für einen Friedensvertrag, der mit allen ehemaligen Kriegsteilnehmern abgeschlossen werden sollte, lag der Note bereits bei. Dieser sah einen Abzug aller Truppen der Besatzungsmächte aus Deutschland spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrags vor. Das vereinigte Deutschland sollte selbst Streitkräfte zur nationalen Verteidigung aufstellen und eine Rüstungsindustrie aufbauen, aber kein Mitglied von Militärbündnissen werden dürfen – es hätte also sicherheitspolitisch neutral bleiben müssen. Der sowjetische Vorschlag bezog sich bei der Grenzziehung auf das Potsdamer Abkommen. Obgleich dort keine endgültige Regelung beschlossen worden war, zielte die Note auf eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze des vereinten Deutschlands ab. Deutschland würden demokratische Rechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und ein pluralistisches Parteiensystem sowie freie Entscheidung über innere Angelegenheiten zuerkannt. Wirtschaftliche Vorgaben wurden nicht gemacht. Zudem sollte die Entnazifizierung beendet werden.
Die sowjetische Note warf viele Fragen auf. So war unklar, wie das geeinte Deutschland genau zustande kommen sollte. Die von der Bundesregierung und den drei westlichen Siegermächten geforderten freien Wahlen als Grundlage für die Vereinigung wurden nicht explizit genannt. Da die Sowjetunion stets davon sprach, in der DDR sei das Potsdamer Abkommen umgesetzt worden, war die Bezugnahme auf Potsdam in der Note ein Hinweis darauf, dass in der sowjetischen Vorstellung das künftige Deutschland eher wie die DDR denn wie die Bundesrepublik aussehen sollte. Widerspruch rief insbesondere die Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und nach bündnispolitischer Neutralität hervor. Auch ging man auf westlicher Seite davon aus, dass die Sowjetunion mit Begriffen wie „unabhängig“, „demokratisch“ und „friedliebend“ ideologisch nicht dasselbe verband wie sie selbst.
Überraschend war das Zugeständnis einer Bewaffnung Gesamtdeutschlands, da dies der kommunistischen Friedenspropaganda widersprach, mit der gegen die geplante Wiederbewaffnung der Bundesrepublik argumentiert wurde. Die Forschung geht davon aus, diese Kehrtwende könnte durch die inzwischen geplante und zum Teil auch bereits verdeckt erfolgende Aufrüstung der DDR beeinflusst gewesen sein, die ein Abrücken von der Aussage, Deutschland dürfe niemals wiederbewaffnet werden, nötig machen würde. Am umstrittensten waren sicherlich die Fragen, welche Folgen die Bündnisfreiheit für das geeinte Deutschland haben würde und ob Stalin tatsächlich bereit war, die DDR aus seinem Machtbereich zu entlassen. Gegen eine aufrichtige Bereitschaft, ein neutrales Deutschland zu schaffen und die DDR aufzugeben sprachen die vielen Vorteile, die sich für die UdSSR aus der Existenz der DDR ergaben. So war die DDR ein strategisch wichtiger Brückenkopf der Sowjetunion in Europa sowie ein grundsätzlich verlässlicher Satellitenstaat. Zudem leistete sie weiterhin Reparationen an die UdSSR und lieferte eine bedeutende Menge Uran für die sowjetischen Nuklearwaffenprojekte.
Reaktionen der Westmächte und in der Bundesrepublik
Die vielen offenen Fragen führten zunächst insgesamt zu einer zurückhaltenden Reaktion im Westen. Insbesondere die oppositionelle SPD, aber auch Jakob Kaiser innerhalb der CDU forderten jedoch, das Angebot diplomatisch auszuloten. Konrad Adenauer widersetzte sich hingegen einer Prüfung der Note, da er befürchtete, dass die daraus resultierenden Verhandlungen Vertreter beider Teile Deutschlands zusammen bringen würde – dies hätte die von ihm abgelehnte implizite Anerkennung der DDR ohne Gegenleistung bedeutet. Noch größer waren allerdings seine Bedenken, dass langwierige Verhandlungen den Abschluss der Westverträge verzögern oder gar verhindern würden. Auch wollte er bei den westlichen Partnern nicht die Erfolge seiner Außenpolitik und das dadurch soeben gewonnene Vertrauen verspielen, indem er die Westorientierung bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in Frage stellte. Für Adenauer war die Stalin-Note ein Ablenkungsmanöver, das bewusst auf eine Ablehnung durch die Westmächte abzielte, um diesen die Schuld für die andauernde deutsche Teilung zuschieben zu können. Sollte Stalin wirklich die Bildung eines neutralen Gesamtdeutschlands zulassen, so diene dies nur dazu, auch noch den westlichen Teil Deutschlands unter sowjetische Herrschaft zu bekommen. So führte er in einer Rede in der Universität Bonn am 28. März 1952 aus: „Wenn Deutschland wirklich neutralisiert wäre, wenn dann die Integration Europas unmöglich wäre, würde Amerika Europa verlassen und dieses arme, zusammengebrochene Europa würde gegenüberstehen dem ungeheuren Koloß im Osten, der durch seine Unterminierung bei uns und durch seine Anhänger in Italien und in Frankreich es in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit fertigbringen würde, auf diesem Wege des kalten Krieges seine Herrschaft über ganz Europa zu erstrecken.“ Selbst wenn Deutschland ernsthaft neutral bleiben konnte, war er sich sicher, dass es im Falle eines Konflikts zwischen den Supermächten aufgrund seiner geopolitischen Lage „über den Haufen gerannt“ würde.
Konrad Adenauer war klar, dass nur die Westmächte als Adressaten des Angebots und Verantwortliche für gesamtdeutsche Fragen die Note erwidern konnten. Er bemühte sich daher zwar, seinen Standpunkt deutlich zu machen, und mahnte eine einheitliche Haltung der Westmächte an, sein tatsächlicher Einfluss war jedoch aufgrund der eingeschränkten Souveränität der Bundesrepublik äußerst begrenzt. Die Westmächte schätzten die Lage aber ohnehin ganz ähnlich ein wie Adenauer. Um dem Vorwurf zu entgehen, sich Gesprächen verweigert zu haben, ließen sie der Sowjetunion am 25. März 1952 eine untereinander abgestimmte Antwortnote zukommen. Die Westmächte bestanden auf einer Vorbereitung von freien Wahlen durch eine UN-Kommission. Die gesamtdeutsche Regierung sollte dann auf Grundlage dieser freien Wahlen gebildet werden. Die Grenzregelung bleibe laut Potsdamer Abkommen einem Friedensvertrag vorbehalten. Zudem wiesen die Westmächte darauf hin, Deutschland müsse über die Mitgliedschaft in Bündnissen selbst entscheiden dürfen. Auch wurde die Schaffung einer unabhängigen deutschen Armee als Rückschritt gegenüber der Eingliederung Deutschlands in ein defensives europäisches Bündnis beschrieben, womit indirekt auf die Europäische Verteidigungsgemeinschaft verwiesen wurde. Mit dieser Antwortnote war bereits klar, dass keine wirkliche Verhandlungsgrundlage bestand. Die Sowjetunion antwortete wiederum am 9. April 1952 und stimmte zwar der westlichen Forderung nach freien Wahlen zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zu, allerdings sollte die Prüfung dieser Wahlen durch die vier Hauptsiegermächte – und somit auch maßgeblich durch die Sowjetunion – und nicht durch die Vereinten Nationen erfolgen. Im Mai 1952 wurden der EVG-Vertrag sowie der Deutschlandvertrag unterzeichnet und damit Tatsachen geschaffen. Dennoch zog sich der Notenwechsel noch bis Herbst 1952 hin, um dann ergebnislos zu enden.
Die zeitgenössische und historiographische Kontroverse
Nicht nur die Opposition und einzelne Vertreter der Regierungsparteien kritisierten, dass Adenauer und die Westmächte Stalins Angebot nicht hinreichend geprüft hätten. In der Publizistik meldeten sich vor allem Paul Sethe von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und Rudolf Augstein vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu Wort, die den Vorwurf von der verpassten Chance auf eine Wiedervereinigung formulierten. Diese Sichtweise gewann erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu dem Notenwechsel an Gewicht. Befeuert wurde sie durch eine legendären Nachtsitzung im Deutschen Bundestag am 23. Januar 1958, in der eine Große Anfrage der FDP-Fraktion zur Außen- und Deutschlandpolitik behandelt wurde. Die FDP hatte sich bereits seit der Koalitionskrise im Winter 1955/56 zunehmend von Adenauers Deutschlandpolitik distanziert. Im Vorfeld der Debatte hatte Bundeskanzler Adenauer einen Vorschlag des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin für eine internationale Abrüstungskonferenz als „ein groß angelegtes Störmanöver und einen Propagandafeldzug“ bezeichnet. Insbesondere der ehemalige CDU-Bundesminister Gustav Heinemann sowie der FDP-Bundesvorsitzende Thomas Dehler übten daraufhin heftige Kritik an Adenauers Deutschlandpolitik. Auch die Stalin-Note kam hierbei zur Sprache. Es sei die „historische Schuld der CDU“, so der inzwischen zur SPD gewechselte Heinemann, Stalins Angebot nicht geprüft zu haben. Die Unionsparteien waren überrumpelt von der Heftigkeit der Angriffe, so dass zunächst keine angemessene Erwiderung auf die Vorwürfe folgte. Da die Presse ausführlich über die Debatte berichtete, wurde nun auch in der Öffentlichkeit noch einmal die Diskussion über die richtige Deutschlandpolitik im Allgemeinen und eventuelle Versäumnisse in Hinblick auf die Stalin-Note im Speziellen befeuert.
Seit in den 1980er Jahren westliches Archivmaterial zum Notenwechsel zugänglich wurde, entbrannte auch unter Historikern eine Kontroverse über die Bewertung von Stalins Angebot. Vor allem Wilfried Loth und – inzwischen abgeschwächt – Rolf Steininger vertreten die These von der verpassten Chance. Schon in den 1980er Jahren formulierte Hermann Graml dagegen die These, die sich seit Anfang der 2000er Jahre mit beginnender Öffnung der sowjetischen Archive zunehmend durchgesetzt hat. Er geht davon aus, die Stalin-Note sei absichtlich unattraktiv für den Westen formuliert worden, um eine Ablehnung hervorzurufen. So habe die Sowjetunion die Schuld für die Zurückweisung des Angebots auf eine deutsche Einheit dem Westen zuschieben wollen. Auf östliche Archivquellen gestützte Arbeiten wie die von Gerhard Wettig, Vladislav Zubok und Peter Ruggenthaler kommen ebenfalls zu dem Schluss, die Initiative habe sich insbesondere an die westdeutsche Öffentlichkeit gerichtet, um den Abschluss der Westverträge zu stören und die Regierung Adenauer in Bedrängnis zu bringen. Zudem sollte die Ablehnung der Stalin-Note durch die Westmächte auch als Begründung für die Aufrüstung der DDR dienen.
Da die Westmächte mit Billigung der Bundesregierung nicht auf Stalins Angebot eingegangen sind, wird es auch weiterhin Spekulationen über die wahre Intention der sowjetischen Note geben. Die aktuelle Forschung geht jedoch auf Grundlage westlicher und östlicher Quellen inzwischen überwiegend davon aus, dass Adenauer und die Westmächte mit ihrer Einschätzung richtig lagen, dass die Stalin-Note keine wirkliche Chance zu einer Wiedervereinigung unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen geboten hätte.
Text von Judith Michel
Literatur
- Filitov, Aleksej, Die Note vom 10. März 1952. Eine Diskussion die nicht endet, in: Jürgen Zarusky (Hg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006, S. 159-172.
- Graml, Hermann, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres 1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29/3 (1981), S. 307-341.
- Laufer, Jochen, Der Friedensvertrag mit Deutschland als Problem der sowjetischen Außenpolitik. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 im Lichte neuer Quellen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52/1 (2004), S. 99-120.
- Loth, Wilfried, Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschland-Politik von Stalin bis Chruschtschow, Göttingen 2007.
- Ruggenthaler, Peter, Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007.
- Schwarz, Hans-Peter (Hg.), Die Legende von der verpassten Gelegenheit. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 (Rhöndorfer Gespräche 5), Stuttgart 1982.
- Steininger, Rolf, Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 2, 1948-1955, Frankfurt/Main 2002.
- Steininger, Rolf, Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn 1985.
- Wettig, Gerhard, Die Stalin-Note. Historische Kontroverse im Spiegel der Quellen, Berlin 2015.
- Zarusky, Jürgen (Hg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen. Mit Beiträgen von Wilfried Loth, Hermann Graml und Gerhard Wettig, München 2002.
2891897 -
Gesetz zur Schaffung der Nationalen Volksarmee
Die Nationale Volksarmee (NVA) war die Armee der Deutschen Demokratischen Republik. Sie hatte die territoriale Integrität sicherzustellen und die militärischen Bündnisverpflichtungen durch den Warschauer Vertrag wahrzunehmen. Die Grenztruppen der DDR hatten die Aufgabe, die Grenzen der DDR zu bewachen. Im Januar 1956 verabschiedete die Volkskammer das „Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee (NVA) und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“. Die NVA war dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt. Ihre Mannschaftsstärke lag am Anfang bei ca. 100.000 Soldaten. Der Führungsanspruch der SED wurde über deren Kommission für Nationale Sicherheit, den Nationalen Verteidigungsrat sowie die Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees der SED gewährleistet.
Wehrpflicht
Die NVA war anfangs eine Freiwilligenarmee. Die Wehrpflicht wurde ab Januar 1962 eingeführt. Der Grundwehrdienst dauerte 18 Monate; zu ihm wurden Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren eingezogen. Bis zur Beendigung des 50. Lebensjahres (bei Offizieren des 60.) gehörte man zur Reserve und konnte dementsprechend zu militärischen Übungen einberufen werden. Als Alternative zur NVA galt auch ein Dienst bei den Grenztruppen, bei den Kasernierten Einheiten des Ministeriums des Inneren oder beim Wachregiment der Staatssicherheit.
Bausoldaten
Frauen konnten freiwillig Laufbahnen als Unteroffizier auf Zeit, Berufsunteroffizier, Fähnrich und ab 1984 auch als Berufsoffizier einschlagen, wobei sie meist bei den rückwärtigen und medizinischen Diensten eingesetzt waren. Einen Zivildienst als Wehrersatzdienst gab es nicht. Jedoch schuf man ab 1964 sog. Baueinheiten. In ihnen war ein Wehrdienst ohne Waffe als Bausoldat möglich, der ebenso wie der normale Wehrdienst 18 Monate dauerte. Freilich hatte der Dienst als Bausoldat negative Folgen für die Karriere, etwa die Nichtzulassung zum Studium. In den letzten Jahren der DDR waren Bausoldaten auch in der Wirtschaft eingesetzt, um den Arbeitskräftemangel in der Großindustrie (z. B. in der chemischen Industrie) auszugleichen.
Die NVA gliederte sich in das Kommando Landstreitkräfte (KdoLaSK), das Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (KdoLSK/LV) sowie das Kommando Volksmarine (KdoVM). Strukturen und Ausrüstung, Fahrzeuge und Kampftechnik waren fast völlig sowjetischen Ursprungs. Die NVA war eng mit den Truppen der „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ (GSSD) verbunden. Der Befehlshaber der sowjetischen Truppen übte die operative Kontrolle über die Streitkräfte der DDR aus.
In der Regel waren die Offiziere der NVA SED-Mitglieder; sie unterlagen der ständigen Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Die der Partei direkt unterstellten Sicherheitskräfte wie die Grenztruppen und die paramilitärischen Kampfgruppen hatten die Aufgabe, selbstständigen Aktivitäten der NVA zuvorzukommen. Innerhalb der NVA gab es zudem Grundorganisationen der SED – mit ähnlichen Strukturen wie in Betrieben, LPGs, Schulen oder Universitäten.
Grenztruppen
Die Grenztruppen der DDR hatten die Aufgabe, die Grenzen der DDR zu bewachen. Im Jahre 1946 als Grenzpolizei aufgebaut, erreichten sie 1948 eine Personalstärke von 10.000 Mann. 1956 wurde die Grenzpolizei als Teilstreitkraft Grenztruppen der NVA eingegliedert. Damit sie im Rahmen des Helsinki-Abrüstungsprozesses nicht zur regulären Heeresstärke gezählt wurden, galten sie nach außen als selbstständig. Jedoch unterstanden sie weiterhin ebenso wie die NVA dem Ministerium für Nationale Verteidigung und wären im Kriegsfall als motorisierte Schützen eingesetzt worden.
Der weitaus größte Teil der Grenztruppen diente zur Bewachung der innerdeutschen Grenze zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, hier vor allem der Unterbindung von Fluchtversuchen von DDR-Bürgern in den Westen. Eine Sonderstellung nahm das Grenzkommando Küste bezüglich der Sicherung der Seegrenze an der Ostsee ein. Von Angehörigen der Grenztruppen wurden aufgrund des Schießbefehls nach Angaben der „Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ (ZERV) 421 Menschen getötet, nach anderen Statistiken liegt diese Zahl deutlich höher.
Die Westgrenze zur Bundesrepublik Deutschland wurde dabei viel intensiver überwacht als die Oder-Neiße-Grenze nach Polen oder die Grenze zur ČSSR. Im (seit 1972) visafreien Grenzverkehr kontrollierten die Grenztruppen in den meisten Fällen nur die Personalausweise, während die Zollorgane der DDR umso intensiver nach Waren suchten, deren Ein- bzw. Ausfuhr verboten war. Mit Beginn der Solidarność-Bewegung in Polen galten auch für das verbündete Nachbarland im Osten Einschränkungen für Privatreisen.
2892005 -
Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK)
Auf dem Gebiet der DDR lagen die mitteldeutschen Stammlande des Protestantismus. Und die Kirchen sollten auch der einzige öffentliche Freiraum bleiben, der dem weltanschaulichen Totalitätsanspruch der SED widersprach. Trotz ihrer Marginalisierung durch den Staat bildeten die Christen die größte Gruppe unter den Andersdenkenden. So differenziert ihre politischen Einstellungen auch sein mochten, ihre angeblich unwissenschaftliche Weltanschauung machte sie unweigerlich zu unzuverlässigen Staatsbürgern zweiter Klasse. Die meisten Karrieren liefen über die Staatspartei. Wer eintreten wollte, musste in der Regel seinen notariellen Kirchenaustritt vorweisen. Bewusstes Christsein war also oft mit Bekenntnis und Verzicht verbunden. Hatte Christlichkeit früher noch zur bürgerlichen Konvention gehört, konnte sie jetzt existenziell einschneidende Konsequenzen haben. Denn blieb das Bekenntnis zur Weltanschauung der Arbeiterklasse aus – z. B. durch Nichtteilnahme am Ritual der Jugendweihe, dem agitatorischen Gegenstück zur Konfirmation bzw. Firmung – schränkte das die Entwicklungschancen innerhalb der Gesellschaft erheblich ein.
Lenin hatte Atheismus mit Klassenkampf identifiziert. Das lieferte nicht nur eine unanfechtbare Grundlage für die Propaganda, sondern rechtfertigte zugleich das Bildungsmonopol der Partei und damit das Monopol ihrer Weltanschauung im Erziehungswesen. Deshalb wurden ein christlich motivierter Bildungsanspruch oder gar die Behauptung einer Werte bildenden zivilisatorischen Rolle von Religion und Kirche unerbittlich bekämpft. Rechtlich gesichert war nur religiöse Betätigung im engen Sinne, und auch das nicht ohne administrative Kontrolle. Feindbildprojektionen machten die Kirche zum inneren Gegner und vermischten ideologische Sabotagevorwürfe mit Phrasen des Kalten Krieges. So waren die Kirchen für den ungebildeten Staats- und Parteichef Walter Ulbricht „kapitalistische Verdummungsanstalten”, wie er in der ersten kirchenfreien sozialistischen Neubaustadt Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt) verkündete. Solche Phasen starker Polemik und Unterdrückung wechselten dabei mit ruhigeren Zeiten.
Die biblische Neuorientierung nach der Gleichschaltung der NS-Zeit hatte in den acht evangelische Landeskirchen für unabhängige Fundamente gesorgt. Zur Gemeindearbeit gehörte auch die eigenständige Unterweisung der Kinder. Es gab eine eigene Aus- und Fortbildung kirchlicher Mitarbeiter und viele diakonische Einrichtungen, es gab die Bildungsarbeit mit der Studentenschaft, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, eine breite musisch-kulturelle Arbeit in Kirchenmusik und Kunstdiensten und nicht zuletzt eine vielfältige Jugend-, Frauen- und Männerarbeit. Auch attraktive Großveranstaltungen wie Kirchen- und Jugendtage gehörten dazu.
1968 wurden die Rechte der Kirchen durch die neue DDR-Verfassung (.pdf)eingeschränkt. Danach gründete sich der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Diese äußerliche Trennung von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ging auf einen „Akt der Nötigung“ (Bischof Werner Krusche) vonseiten des Staates zurück. Die neue Zeugnis- und Dienstgemeinschaft versuchte, die DDR trotz ideologischer Unterdrückung als Bewährungsraum, Auftragsfeld und Dienstchance anzunehmen. Das Leitbild Kirche als Lerngemeinschaft machte aus der Minorisierung eine fromme Tugend. Doch der Rippichaer Dorfpfarrer Oskar Brüsewitz setzte 1976 mit seiner Selbstverbrennung ein aufrüttelndes Zeichen gegen die Gefahr der Anpassung. Zunehmend stellte sich mündiges Christsein (Dietrich Bonhoeffer) der Bevormundung und Entmündigung entgegen. Modernisierungsprozesse und sozialethische Politisierung griffen ineinander; neben Gesprächskreisen und Gemeindeseminaren bildeten sich aktive Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Das Ministerium für Staatssicherheit konstatierte: „Forderungen des Staates, den politischen Missbrauch der Kirchen durch feindliche oppositionelle Kräfte zu unterbinden, wurden durch kirchliche Amtsträger bisher in der Regel negiert. Diese Tatsache und die wachsende Politisierung der Tätigkeit der evangelischen Kirchen sowie das ständige Lavieren und Taktieren dieser Personen nach allen Seiten haben das Wirken von personellen Zusammenschlüssen, Gruppierungen und Gruppen unter dem Dach der Kirche wesentlich begünstigt.”
Biblische Tradition und evangelische Theologie stellten Wissensbestände, Sprachformen, Vergleichsmöglichkeiten und Symbole zur Verfügung, welche Urteilskräfte und Handlungsfähigkeiten förderten, mit Resignation umgehen lehrten und in ausweglosen Situationen zum Handeln ermutigten. Die Wirkungsmodelle aus den Reden Jesu – Licht, Salz, Sauerteig – entfalteten ihre faszinierende Kraft. Die protestantisch geprägte Minderheit wurde so zum Träger des Protestpotenzials in der DDR-Gesellschaft, und sie bildete einen erheblichen Teil der Kristallisationskerne der demokratischen Bürgerbewegungen (so zum Beispiel die Friedensdekaden oder die Berliner Umweltbibliothek) und Parteien. In der ersten Hälfte der friedlichen Revolution von 1989 übernahm sie – im weiteren Verlauf von Katholiken und Konfessionslosen unterstützt – katalytische und orientierende Funktionen.
2892028 -
Selbstverbrennung Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz
Bald nach der Gründung der DDR wurden mit Hilfe der Sowjetischen Militäradministration alle Parteien und Massenorganisationen gleichgeschaltet. Als einzige legale oppositionelle Kraft blieben aufgrund der in der ersten DDR-Verfassung verankerten Religionsfreiheit die Kirchen bestehen. Bereits im Frühjahr 1950 aber gab es eine erste schwere Auseinandersetzung wegen der staatlichen Beeinflussung von Kirchenfragen. Nach einem Gespräch zwischen Bischof Friedrich Dibelius und Otto Grotewohl im Sommer 1950 hatte sich der Staatsmann zu scharfen Attacken verleiten lassen. Da die Kirchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit dem späteren Mitgliederschwund zu kämpfen hatten, bedeutete der öffentliche Angriff einen empfindlichen Vertrauensverlust für den jungen Staat DDR. Im Laufe der Zeit wurde es jedoch für die Kirche immer schwieriger, sich zu behaupten und dem totalen Anspruch der Staatsmacht wirkungsvollen Widerstand entgegenzusetzen.
Einen ersten Kulminationspunkt der Differenzen bildete das Jahr 1952, in dem auf der 2. Parteikonferenz der SED der Aufbau des Sozialismus beschlossen wurde. Dieser Beschluss trieb die Kirchen noch stärker in die Opposition. Besonders drastisch gingen die staatlichen Stellen gegen die „Junge Gemeinde“ vor und begannen nach der Politbürotagung vom 27. Januar 1953 mit einem intensiven Propagandafeldzug. Nachdem auf dieser Tagung die „Junge Gemeinde“ als „Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage“ diffamiert worden war, hatte man eine Handhabe, den Religionsunterricht an den Schulen sowie die kirchlichen Jugendzeitschriften „Der christliche Student“ und „Die Stafette“ zu verbieten. Im Zuge einer bis dahin nicht gekannten Verleumdungskampagne wurden zahlreiche Jugendliche und über 70 Theologen und Jugendleiter verhaftet. Wer sich nicht von der „Jungen Gemeinde“ distanzierte, der wurde von der Erweiterten Oberschule oder der Universität verwiesen. Trotz schlimmster Schikanen und nicht enden wollendem psychischem Terror bildete sich ein Netzwerk, in das eine große Zahl von Jugendlichen eingebunden war, und so ging die Kirche gestärkt aus dieser Aktion hervor. Da es die Staatsspitze mit ihren Restriktionen dann aber zu weit trieb, wurde sie Anfang Juni 1953 sogar von der KPdSU in die Schranken gewiesen.
Daher sah sich Otto Grotewohl am 10. Juni veranlasst, Vertreter der Evangelischen Kirche zu einem Grundsatzgespräch einzuladen. Aber ehe der angekündigte „Neue Kurs“ in der Realität Wirkung zeigen konnte, kam es zu dem gescheiterten Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der für die kirchlichen Instanzen einen schweren Rückschlag darstellte. Die Angriffe und die Methoden der Staatsmacht wurden nun ausgefeilter und die konspirative Unterwanderung kirchlicher Kreise subtiler. Vor allem nach dem Mauerbau am 13. August 1961 drängte die SED Führung mit aller Macht darauf, endlich das Kirchenproblem zu lösen. Dazu kam, dass die Kirche zu der im Januar 1962 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht nun grundsätzlich Stellung beziehen musste. So wurden am 8. März 1963 die „Zehn Artikel“ als eine erste deutsche gesamtkirchliche Stellungnahme verabschiedet, die für „den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen“ votierte. Daraufhin bekannte sich eine Anzahl junger Männer als Totalverweigerer, wofür ihnen eine zweijährige Zuchthausstrafe drohte. Andere junge Christen dienten seit 1964 als sog. Bausoldaten und verweigerten auf diese Weise den Wehrdienst mit der Waffe.
Nach der am 3. Juli 1973 in Helsinki veranstalteten „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ änderte sich die Lage ein wenig. Nun war der SED-Staat um seiner Reputation willen angehalten, offene Kritik an den Kirchen zu vermeiden. Als Reaktion auf diese neuartige Politik des Staates bildeten sich verschiedene innerkirchliche Haltungen heraus. Eines der bestimmenden Ereignisse nach diesem Datum war das Selbstopfer des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz öffentlich verbrannte. Zwar wollte Brüsewitz mit seiner Tat vor allem den sozialistischen Staat demaskieren, aber zugleich auch innerkirchliche Zustände treffen. Es wurde schnell klar, dass die Kirchenleitungen weder in der Lage noch willens waren, das Ereignis wirksam politisch zu nutzen, und so gerieten sie in einen andauernden Konflikt mit einer Reihe von Theologen. Die Auswirkungen von Brüsewitz’ Tat betrafen jedoch nicht nur die Spannungen zwischen Kirche und Staat, sondern wiesen auch die schwelende gesamtgesellschaftliche Krise hin.
SED-Generalsekretär Erich Honecker hatte am 6. März 1978 bei einer Begegnung mit dem Vorstand des Evangelischen Kirchenbundes zugesichert, die bisherige Auffassung der SED vom Absterben der Religion im Sozialismus zu korrigieren und die Kirche als eigenständige, weitgehend autonome Organisation mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung anzuerkennen. Die Spannungen und Konflikte zwischen Staat und Kirche blieben aber bestehen. Erst nach dem gewaltsamen Vorgehen der Stasi gegen die Berliner Zionsgemeinde im November 1987 setzten sich die Kräfte durch, die für eine offensivere, stärker sozialismuskritische Politik der Kirche eintraten. Von da an wurden auf Initiative der Berliner Umweltbibliothek die bisher unter dem Dach der Kirche wirkenden oppositionellen Basisgruppen landesweit vernetzt. Sie bildeten dann das Rückgrat der friedlichen Revolution von 1989.
2892234 -
Gemeinsames „Dialogpapier“ von SED und SPD: "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit"
Am 27. August 1987 veröffentlichen SPD und SED das gemeinsame Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Die Veröffentlichung des Papiers ist ein spektakuläres Ereignis, v.a. für die Bürger der DDR. Das ansonsten ob seiner Langeweile wenig beliebte SED-Parteiblatt „Neues Deutschland“ ist im Handumdrehen ausverkauft. Die Bewertungen des Papiers gehen auseinander: Kritiker sprechen von Anbiederung an die DDR, Legitimierung und Stabilisierung der SED-Diktatur und Preisgabe des Ziels der deutschen Einheit; die Befürworter rechtfertigen das Dokument als Beitrag zum friedlichen Miteinander im Atomzeitalter, als Instrument der Differenzierung innerhalb der Staatspartei und Katalysator des demokratischen Umbruchs in der DDR. Tatsächlich ist es das Produkt falscher Prämissen und der Tendenz führender Sozialdemokraten, zentrale deutschlandpolitische Positionen aufzugeben.
Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Endphase des Kalten Krieges, Machtwechsel und sozialdemokratische Nebenaußenpolitik
Das Papier entsteht in der Endphase der Ost-West-Konfrontation. Die Jahre zwischen 1979 und 1985 sind zunächst geprägt von erneuter Konfrontation und wechselseitiger Aufrüstung. Auf die Aufstellung moderner SS 20-Raketen durch die Sowjetunion reagiert die NATO mit dem sog. „Doppelbeschluss“. Zunächst soll in Verhandlungen mit der UdSSR versucht werden, die Stationierung dieser Waffen rückgängig zu machen. Im Fall des Scheiterns werde die NATO mit der Aufstellung amerikanischer Pershing II- und Cruise-Missile-Raketen auch in der Bundesrepublik reagieren. Tatsächlich kommt es erst nach der Durchsetzung des Doppelbeschlusses und der Nachrüstung durch die neue Regierungskoalition unter Helmut Kohl zu erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen. Seit 1985 betreibt der neue sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow eine Politik der inneren Reformen und äußeren Entspannung. 1987 wird der INF-Vertrag über den Abbau aller landgestützten Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa unterzeichnet.
In dieser Zeit bemüht sich die jegliche Reformen ablehnende SED-Führung unter Erich Honecker verstärkt darum, eigene politische Akzente zu setzen und internationales Prestige zu gewinnen. Die SPD, seit dem Machtverlust im Oktober 1982 in der Opposition, ist tief verunsichert und auf der Suche nach Profilierungsmöglichkeiten. Die SPD/FDP-Koalition war nicht zuletzt deshalb zerbrochen, weil große Teile der SPD Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Nachrüstungsfrage die Gefolgschaft verweigert hatten. Zudem fürchtet man – zu Unrecht, wie sich bald zeigt – es werde nach dem Regierungswechsel zu einer neuen Eiszeit im Verhältnis zur DDR kommen. Offizielle Gespräche mit der SED, die es seit Mai 1983 auf Anregung des Parteivorsitzenden Willy Brandt auf zahlreichen Ebenen regelmäßig gibt, sind somit Teil einer Art „Nebenaußenpolitik“, mit der man sich von der Regierungspolitik Helmut Kohls abzusetzen versucht. Bald gehört es „für die ´wahlkämpfenden´ SPD-Spitzenpolitiker zur ´Pflicht´, Erich Honecker einen Besuch abzustatten und sich mit ihm gemeinsam in den Medien zu präsentieren“ (Reißig). Gemeinsame Arbeitsgruppen formulieren Papiere zu sicherheitspolitischen Fragen, die präsentiert werden, als handle es sich um zwischenstaatliche Verträge und nicht um Parteipapiere. Im Rahmen dieser Parteikontakte treffen sich auch Vertreter der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, um über ideologische Streitfragen des Ost-West-Konflikts zu diskutieren.
Die Akteure
Die Zusammensetzung der insgesamt sieben Gesprächsrunden im Zeitraum von Februar 1984 bis April 1989 ist unterschiedlich. Leiter der SPD-Delegation ist der Vorsitzende der Grundwertekommission, Erhard Eppler. Neben ihm nehmen Klaus Mehrens, Burkhard Reichert und der Leiter der Gustav-Heinemann-Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Thomas Meyer, an allen Treffen teil. Weitere wichtige Mitglieder auf Seiten der SPD bei mehreren Sitzungen sind die bekannten Politologen Richard Löwenthal und Iring Fetscher, die Parteihistorikerin Susanne Miller sowie der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungsozialisten und spätere Präsident des Deutschen PEN-Zentrums, Johano Strasser.
Die SED-Delegation wird geleitet von Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG) beim Zentralkomitee der SED. Außer ihm ist Erich Hahn, Leiter des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie der AfG, bei allen Treffen beteiligt. Beide gehören dem Zentralkomitee der SED an. Weitere Teilnehmer sind u.a. Rudi Weidig, Harald Neubert, Rolf Reißig und der spätere Vorsitzende der SED-Nachfolgepartei PDS, Lothar Bisky. Auf dem 4. Treffen im Februar 1986 in Freudenstadt wird der Beschluss gefasst, ein gemeinsames Positionspapier zu erarbeiten. Die Erstellung eines Textentwurfs übernehmen Rolf Reißig (SED) und Thomas Meyer (SPD). Das Dokument wird am 27. August 1987 auf parallelen Pressekonferenzen in Bonn und Ost-Berlin präsentiert.
„Friedenssicherung“ und „friedlicher Wettbewerb der Systeme“
Leitmotiv des Papiers, das sich „über weite Strecken keineswegs wie ein Manifest der Arbeiterbewegung, sondern wie das Erziehungsbrevier aus einer protestantischen Studienratsfamilie jener friedensbewegten Jahre“ liest (Walter), ist die Friedenssicherung, die „zur Grundvoraussetzung aller verantwortbaren Politik geworden“ sei. Diese sei nur gemeinsam zu erreichen, weshalb kein System das Ziel verfolgen dürfe, das jeweils andere abzuschaffen. Vielmehr müsse man „sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen“. Notwendig sei ein „friedlicher Wettbewerb der Gesellschaftssysteme“, durch den man, einhergehend mit einer „Verringerung der Rüstungen“, „den sozialen Fortschritt in beiden Systemen befördern und beschleunigen“ könne. Die fundamentalen Unterschiede zwischen SPD und SED hinsichtlich des Verständnisses von Demokratie, Menschenrechten und gesellschaftlichem Pluralismus werden zwar benannt, im Anschluss daran jedoch betont, „dass Kommunisten und Sozialdemokraten die Grundentscheidungen des jeweils anderen beachten (müssten), keine Feindbilder aufbauen, die Motive der anderen Seite nicht verdächtigen, deren Überzeugungen nicht absichtlich verzerren und ihre Repräsentanten nicht diffamieren“ dürften. Die Hoffnung sei darauf zu richten, „dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Man müsse einander „Entwicklungsfähigkeit und Reformfähigkeit“ zugestehen. Auch innerhalb der jeweiligen Systeme müsse eine „offene Diskussion“ möglich sein, was eine „umfassende Informiertheit“ der Bürger, nicht zuletzt durch „die Verbreitung von periodisch und nicht periodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen aus den anderen Teilnehmerstaaten“ voraussetze. Letzteres erscheint als beachtliches Zugeständnis seitens der SED-Führung, an das diese sich – wie bald deutlich wird – jedoch keineswegs zu halten gedenkt. Die Frage der Wiedervereinigung ist in dem Papier über die genannte Feststellung hinaus, man werde „noch lange nebeneinander bestehen“, überhaupt nicht thematisiert. Es fehlt auch jeder Hinweis auf das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes.
Zeitgenössische Reaktionen: Kritik auch aus den eigenen Reihen
Die Reaktionen auf die Veröffentlichung sind gespalten. Die Notwendigkeit, im Interesse der Menschen mit den Machthabern in der DDR einen Dialog zu führen, wird nicht in Frage gestellt, wohl aber zentrale Aussagen des gemeinsamen Papiers. Die Kritik betrifft v. a. die in der Tat hochproblematische Relativierung des Gegensatzes von Demokratie und Diktatur. So erinnert die spätere Kandidatin der SPD für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, an den „Unvereinbarkeitsbeschluss“ der Partei von 1971, in dem der „Gegensatz von Rechtsstaatlichkeit und Willkür, von freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“ hervorgehoben wird. Demgegenüber würden im SED/SPD-Papier das Freiheitsproblem nicht thematisiert, gegensätzliche Positionen als „gleichberechtigt präsentiert“ und von einem „grundlegenden Ansatz der formellen Gleichstellung beider Systeme“ ausgegangen. Die FAZ konstatiert, die SPD stelle Grundwerte in Frage und habe offenbar aus der Parteigeschichte nichts gelernt, als etwa in der Endphase der Weimarer Republik Sozialdemokraten von den Kommunisten als „Sozialfaschisten“ bekämpft worden seien. Bundeskanzler Helmut Kohl betrachtet das Papier als „erbärmliches Machwerk“ und lehnt die Parteigespräche zwischen SPD und SED uneingeschränkt und prinzipiell ab. Wegen des bevorstehenden Besuchs von SED-Generalsekretär Erich Honecker in der Bundesrepublik hält er sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück und überlässt es anderen führenden Politikern der Union, Stellung zu nehmen.
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler benennt ein zentrales Problem des „Gemeinsamen Papiers“, nämlich die Verwischung der „grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Menschenbild der freiheitlichen Demokratie und den Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität einerseits und der fundamental unterschiedlichen Werte- und Gesellschaftsordnung in der DDR andererseits“. Die SPD täte besser daran, gemeinsam mit der Bundesregierung am „Ziel der Einheit der Nation festzuhalten“. Andere Vertreter der Unionsparteien kritisieren das zum Ausdruck kommende Friedensverständnis und die Vernachlässigung von Freiheit und Menschenrechten als Voraussetzungen für einen menschenwürdigen Frieden. Auf genau diesen Zusammenhang weist Kohl in seiner auch in der DDR live ausgestrahlten Tischrede anlässlich des Honecker-Besuchs zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Papiers eindringlich hin. Er betont zudem das Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung, das durch die Präambel des Grundgesetzes Verfassungsrang besitzt. So macht er Honecker und der Öffentlichkeit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs bei aller Bereitschaft zu Verhandlungen die fundamentalen Gegensätze zum SED-Regime deutlich.
Die Reaktionen regimekritischer Kreise in der DDR auf das Papier sind zwiespältig: Während Eppler von Vertretern der Evangelischen Kirchen Zustimmung und Zuspruch erfährt, sind viele Bürgerrechtler skeptisch, weil sie das Papier – mit Recht, wie sich bald zeigt – vor allem als Instrument der DDR-Auslandspropaganda betrachten und nicht als Beleg einer ernsthaften Dialog- und Veränderungsbereitschaft der SED.
Bilanz: Falsche Prämissen, Blauäugigkeit und enttäuschte Hoffnungen
Tatsächlich bestätigt sich der Verdacht, dass die SED-Führung das Papier lediglich propagandistisch auszuschlachten sucht, nicht aber als Ausgangspunkt eines offenen und kritischen Dialogs mit oppositionellen Kräften versteht. Die Hoffnungen, „über eine Streitkultur zwischen den beiden Systemen zu einer freien Diskussion innerhalb des kommunistischen Systems zu kommen“ (Eppler), erweisen sich als blauäugig. Gleiches gilt für die Annahme, das kommunistische System und die SED-Führung seien reformfähig. Tatsächlich begibt sich die SPD mit der wechselseitigen Bescheinigung der Reformfähigkeit unverständlicherweise auf Augenhöhe mit der SED, die in den Jahren zuvor keinerlei Reformbereitschaft hatte erkennen lassen. Die klare Abgrenzung gegenüber der diktatorischen Staatspartei fällt damit zusehends schwerer. Erhard Eppler räumt rückblickend selbstkritisch ein, man habe den Marxismus/Leninismus ernster genommen, als er es in den 1980er Jahren verdient habe. Zudem könne er heute die Kritik daran nachvollziehen, „dass wir den Kommunismus allen Ernstes für reformfähig gehalten haben“. Allerdings nimmt er für das Papier in Anspruch, dass sich in den Diskussionen darüber innerhalb der SED „zum ersten Mal deutlich die Reformer von den Betonköpfen geschieden“ hätten. Insofern habe es „seine Funktion für den Umbruch von 1989 gehabt“. Indes liegt dies seinerzeit erklärtermaßen gar nicht in der Absicht der Beteiligten, betrachten doch nicht wenige Sozialdemokraten die Erschütterung des Status quo als „den Gefahrenherd für die Auslösung eines Atomkriegs schlechthin“ (Walter). Die Ausgangsprämissen bezüglich der unabsehbaren Dauer des Ost-West-Konflikts, der Stabilität des Regimes in der DDR und der Reformfähigkeit des kommunistischen Systems erweisen sich jedoch als falsch. Das Papier, aber auch das Verhalten führender Sozialdemokraten in den Jahren danach zeigen zudem eine deutschlandpolitische Fixierung auf die SED, die deren Machterosion und die wachsenden oppositionellen Kräfte in der DDR kaum zur Kenntnis nimmt bzw. mit Misstrauen betrachtet. So erklärt Horst Ehmke, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, noch im Oktober 1989, dass der Beweis der Reformunfähigkeit des DDR-Systems „noch nicht erbracht“ sei. Offensichtlich waren führende Sozialdemokraten „in den achtziger Jahren in Gefahr, ihre politischen Wünsche mit der Wirklichkeit zu verwechseln“ (Winkler).
Letztlich ist das SED/SPD-Papier Ausdruck einer nach dem Machtverlust von 1982 um sich greifenden Entwicklung in großen Teilen der SPD: Deutschlandpolitische Positionen, bei denen man sich jahrzehntelang über die Parteigrenzen hinweg einig gewesen war, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Dies betrifft u.a. die Anerkennung einer eigenen Staatsbürgerschaft der DDR oder die Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, aber eben auch die grundsätzliche Infragestellung des in der Präambel des Grundgesetzes formulierten Wiedervereinigungsgebots. Ende der 1980er Jahre streichen Lafontaine, Johannes Rau und weitere SPD-Ministerpräsidenten die jährlichen Zuschüsse ihrer Länder an die Erfassungsstelle. Für den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder ist es damals „selbstverständlich, die DDR-Staatsbürgerschaft zu respektieren“. Damit machen sich führende Sozialdemokraten zentrale Forderungen der SED zu eigen, deren Erfüllung es stark erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte, die historische Chance zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit zu nutzen, die sich kurz darauf bietet.
Den problematischsten Aspekt des 1987 vorgestellten „Dialogpapiers“, der zugleich den zentralen Unterschied zur Politik der CDU-geführten Bundesregierung gegenüber dem SED-Regime markiert, benennt der Historiker Heinrich August Winkler: „Die SPD ging über die Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR hinaus, wenn sie die Existenzberechtigung des Gesellschaftssystems der DDR ausdrücklich bestätigte.“ Damit habe die Partei eine Abkehr von der grundsätzlichen Ablehnung des Systems vollzogen, „das nicht aufgehört hatte, eine Diktatur zu sein“.
Text von Christopher Beckmann
Literatur
- Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt a. M. 1996, S. 173–190.
- Jörg-Dieter Gauger: Das „Friedenspapier“ von SPD und SED – Zur Analyse eines „historischen Dokuments“. In: Eichholzbrief 1/88, S,. 59–65.
- Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990. München 2005.
- Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler. Frankfurt a. M. 2002 (darin auch der Wortlaut des Dokuments).
- Gesine Schwan: „Ein Januskopf – Gefahren und Chancen. In: FAZ v. 23.9.1987.
- Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006.
- Franz Walter: Wie SPD und SED die DDR destabilisierten. In: Der SPIEGEL v. 26. August 2007.
- Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen 2. Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 452–462.
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Offizieller Arbeitsbesuch Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland
Der „Arbeitsbesuch“ des DDR-Staats- und Regierungschefs Erich Honecker in Bonn und in einigen deutschen Bundesländern vom 7.-11. September 1987 war der gewiss ungewöhnlichste und zugleich deutschlandpolitisch bedeutendste Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung bedachte den Gast aus der DDR mit allen protokollarischen Ehren eines offiziellen Staatsbesuchers und schien damit die Souveränität der DDR und die deutsche Zweistaatlichkeit vor aller Welt anzuerkennen. Und doch hielt sie unbeirrt an der Offenheit der Deutschen Frage und an einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft fest.
Der erste offizielle Besuch eines Staatsoberhaupts und Regierungschefs der DDR in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. – 11. September 1987 hatte eine lange Vorgeschichte. Es hatte bis dahin drei deutsch-deutsche Gipfeltreffen gegeben – 1970 in Erfurt, 1971 in Kassel und im Dezember 1981 in Hubertusstock am Werbellinsee. Bei diesem Treffen hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt Erich Honecker zu einem Gegenbesuch nach Bonn eingeladen. Dieser hätte auch gut zu den unter Kanzler Kohl sich intensivierenden deutsch-deutschen Kontakten und Vertragsverhandlungen gepasst: Persönliche Telefonate zwischen Kohl und Honecker oder Begegnungen am Rande von Trauerfeierlichkeiten förderten das innerdeutsche Verhältnis, auch der von Franz Josef Strauß 1983 mit eingefädelte Milliardenkredit und ein weiterer 1984, für den die Bundesregierung ebenfalls bürgte, trugen dazu bei. Im Gegenzug beseitigte die DDR im November 1984 die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze, erleichterte den Reiseverkehr in beide Richtungen und bewilligte Ausreisegenehmigungen großzügiger als zuvor. Auch die Abschaffung der Todesstrafe und die Ankündigung einer allgemeinen Amnestie im Juli 1987 können sowohl als Zugeständnisse gegenüber innerem Druck als auch als ‚Reisevorbereitungen’ für Bonn gelten.
Angesichts dieser Entwicklung fürchtete Moskau einen deutsch-deutschen Sonderweg. Außerdem waren die Ost/West-Beziehungen wegen der Auseinandersetzung um die Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen bis in die Mitte der 1980er Jahre äußerst gespannt. So sperrte sich Moskau gegen Honeckers Reisewunsch nach Bonn. Erst mit dem Regierungsantritt Michael Gorbatschows im März 1985 und der Neuausrichtung seiner Politik nach den Prinzipien von „Glasnost“ und „Perestroika“ wurde ein Klima der Entspannung im Ost/West-Verhältnis möglich. 1986 einigten sich die USA und die Sowjetunion auf die Halbierung ihrer strategischen Atomwaffen und auf den Abbau ihrer Mittelstreckenraketen in Europa. Die Bundesregierung verzichtete Ende August 1987 endgültig auf die Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing I A. Vor diesem Hintergrund konnten auch die innerdeutschen Verhältnisse sich weiterentwickeln, und es konnte im September 1987 endlich zu dem v.a. von Honecker gewünschten Besuch in der Bundesrepublik kommen, zu dem Kohl den DDR-Staatschef beim ersten persönlichen Zusammentreffen anlässlich der Beerdigung des sowjetischen Generalsekretärs Tschernenko im März 1985 erneut eingeladen hatte.
Ablauf
In Bonn
Der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik genoss weltweit überragende Aufmerksamkeit; ca. 2.400 Journalisten waren akkreditiert. Bei seiner Ankunft am Flughafen Köln/Wahn wurde Honecker zunächst von Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble begrüßt, der seit Mai 1987 in intensiven Gesprächen mit SED-ZK-Mitglied und DDR-Chefunterhändler Alexander Schalck-Golodkowski die Choreographie des Besuchs gestrickt hatte. Danach wurde der SED-Chef von Bundeskanzler Kohl vor dessen Amtssitz empfangen. Obwohl der Honecker-Besuch als „ offizieller Arbeitsbesuch“ galt, sah das Protokoll doch alles zeremonielle Gepränge wie bei einem normalen Staatsbesuch vor: Polizeieskorte (allerdings nur sieben Kräder statt 15, wie sonst bei Staatsbesuchen üblich), beide Hymnen, beide Flaggen, Wachbataillon der Bundeswehr – kurz: augenfällige Hinweise auf Anerkennung der Gleichberechtigung und Souveränität der DDR und zugleich Beleg für die faktische Zweistaatlichkeit Deutschlands.
Nach einem ersten Gedankenaustausch der beiden Regierungschefs im kleinen Kreis war Honecker beim Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Mittagessen geladen, der ihn als „Deutscher unter Deutschen“ begrüßte, den Besuch als Beleg für die Fortschritte im innerdeutschen Dialog wertete und zu weiterer „systemöffnender Zusammenarbeit“ aufrief (zit. DIE ZEIT, 11.9.1987). Der Nachmittag war vor allem Gesprächen im Kanzleramt gewidmet, wobei es vornehmlich um bilaterale innerdeutsche Themen ging: Reise- und Besuchsverkehr, Verbesserungen im grenznahen Bereich, Grenzfeststellung im Elbe-Abschnitt, Mindestumtausch, Städtepartnerschaften, Schießbefehl u.a.m.
Beim gemeinsamen Abendessen der Delegationen in der Godesberger Redoute wurden in den Tischreden der Regierungschefs die politischen Grundpositionen ausgetauscht. Kohl hatte im Vorfeld darauf bestanden, dass sowohl im West- wie im Ostfernsehen die Tischreden der beiden Regierungschefs live übertragen wurden.
Am zweiten Besuchstag konferierte Honecker erneut mit Kohl und Schäuble in kleinem Kreis. Außerdem kam er mit dem Bundestagspräsidenten Jenninger, mit Alt-Bundespräsident Carl Carstens sowie mit den Partei- und/oder Fraktionsvorsitzenden zusammen, u.a. mit dem SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Abends gab er eine Gegeneinladung zum Essen.
In den besuchten Bundesländern
Die verbleibenden drei Tage gehörten der ‚Provinz’. In Nordrhein-Westfalen kam er mit Wirtschaftsgrößen wie Krupp-Chef Berthold Beitz und DIHT-Chef Otto Wolff von Amerongen zusammen und besprach Möglichkeiten des Technologietransfers, der Produktionsentwicklung und der Zusammenarbeit im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus in Ländern der Dritten Welt. In Wuppertal führte Landeschef Johannes Rau ihn zum Geburtshaus von Friedrich Engels und vereinbarte mit ihm zukünftige mindestens halbjährlich stattfindende Kontaktgespräche vor allem zu Umweltschutztechniken.
In Rheinland-Pfalz wurde Honecker vor dem Kurfürstlichen Palais in Trier von Ministerpräsident Bernhard Vogel empfangen, mit dem er Möglichkeiten zu wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der DDR und dem Bundesland erörterte. In seiner mittäglichen Tischrede artikulierte Vogel den Wunsch aller Deutschen, „dass keiner mit Waffengewalt daran gehindert wird, wenn er die Grenze überschreiten möchte“ (zit. Die Welt, 11.9.1987). Im Besuch des Geburtshauses von Karl Marx in Trier sah Honecker einen „besonderen Höhepunkt“ seiner Reise (ebd.).
Im saarländischen Wiebelskirchen , das heute zu Neunkirchen gehört, kam Honecker mit seiner jüngeren Schwester und mit Jugendfreunden zusammen und besuchte sein Geburtshaus und das Grab seiner Eltern. Mit Ministerpräsident Lafontaine und Größen aus Wirtschaft und Politik des Landes kam er zu einem Essen auf der Dillinger Hütte zusammen.
Honeckers letzter Besuchtstag galt München, wo Ministerpräsident Strauß ihn am Flughafen abholte, mit ihm in der Staatskanzlei konferierte und ihm zu Ehren in der Residenz ein Mittagessen gab, zu dem etwa 130 Vertreter aus Politik und Wirtschaft Bayerns geladen waren.
Politische Positionen
Beim Abrücken von früheren Statusvorbehalten beim aufwändigen Empfang für den DDR-Staats- und Regierungschef fühlte Kohl sich wie ein „Gefangener des Protokolls“ (Kohl, Erinnerungen, 548). Seine Motive kommen am besten in den schlichten Worten des Innenstaatssekretärs Ludwig Rehlinger zum Ausdruck: „Wir nehmen das sozusagen in Kauf, um mehr Bewegungsraum, mehr Freiheitsrechte für die Menschen zu erreichen.“ (zit. Der Spiegel, 31.8.87, 25) Das war genau Kohls Position. Er dachte dabei vor allem an Reisefreiheit nach hüben und drüben. Aber die protokollarischen Zugeständnisse dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung an den Grundpositionen ihrer Deutschlandpolitik festhielt, wie Kohl in einer ersten bilanzierenden Rückschau auf Honeckers Bonner Tage am 10. September vor dem Deutschen Bundestag betonte: Verankerung im westlichen Bündnis und in der EG, Einheit der Nation, eine Staatsangehörigkeit.
Diese Grundpositionen kamen insbesondere in Kohls Tischrede am Abend des ersten Besuchstages in der Godesberger Redoute zum Ausdruck: Die Präambel ihres Grundgesetzes verpflichte die Bundesrepublik auf das Ziel der deutschen Einheit in Freiheit und auf die Einheit Europas. „Das Bewusstsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je und ungebrochen ist der Wille sie zu bewahren“ . Schon bei dem ersten Gespräch am Vormittag hatte Kohl darauf hingewiesen, dass der Wunsch nach friedlichem Zusammenleben nur bei Beachtung der Menschenrechte möglich sei. In seiner abendlichen Rede wurde er konkreter und forderte Honecker auf, die Mauer und den Schießbefehl aus der Welt zu schaffen („…dass an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden….“, ebd.): „Die Menschen leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.“ (ebd.) Kohl lobte den gestiegenen Reiseverkehr zwischen den beiden Staaten, sprach sich für die auch von Honecker während seines Besuchs mehrfach angemahnte Beseitigung der Mittelstreckenraketen und für die Beseitigung der Spaltung Europas in einer europäischen Friedensordnung aus. Im „Neuen Deutschland“ wurde die Ansprache des Bundeskanzlers im Wortlaut veröffentlicht.
Honecker ging in seiner Tischrede vor allem auf den Vorrang des Weltfriedens ein. Von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen – darauf hatten sich Kohl und Honecker schon bei einem Zusammentreffen in Moskau am 12. März 1985 geeinigt. Es gehe darum, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen; dazu sei die Beseitigung der Mittelstreckenraketen eine Schlüsselfrage, worin man sich mit der Bundesrepublik einig sei. Eine für beide Seiten nützliche Politik müsse zwingend von der Einsicht in die Realität zweier souveräner, von einander unabhängiger deutscher Staaten ausgehen; dies sei ein grundlegendes Element der europäischen Nachkriegsordnung; wer daran rüttle, gefährde Frieden und Stabilität. Zu den Realitäten dieser Welt gehöre auch, „dass Sozialismus und Kapitalismus sich ebenso wenig vereinigen lassen wie Feuer und Wasser“ . Auch deshalb bestehe im Verhältnis beider deutscher Staaten zueinander zum Modell der friedlichen Koexistenz keine vertretbare Alternative.
Auf die von Kohl angemahnte Beseitigung von Mauer und Schießbefehl ging Honecker nicht ein. Doch deutete er wenige Tage später bei seinem Besuch im Saarland in einer Rede in Neunkirchen eine mögliche Normalisierung an der innerdeutschen Grenze an. Wegen der festen Verankerung in den jeweiligen Bündnissen seien die Grenzen zwischen Ost und West in der Tat nicht so, „wie sie sein sollten“. (zit. Süddeutsche Zeitung, 12.9.1987) Wenn aber die Bundesrepublik und die DDR auf der Grundlage des soeben unterzeichneten Kommuniqués eine „weitere friedliche Zusammenarbeit“ erreichten, dann werde „auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern Grenzen uns vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint.“(ebd.) Vor dem Hintergrund, dass nach offiziellem DDR-Sprachgebrauch die Grenze zu Polen als „Freundschaftsgrenze“ galt, ist über diese Äußerung Honeckers viel spekuliert, aber wenig wirklich aufgeklärt worden.
Ähnlich klare Worte wie Helmut Kohl fand Franz Josef Strauß in München gegenüber Honecker: Auch er betonte die Offenheit der Deutschen Frage und das Recht auf nationale Selbstbestimmung und bekannte sich zur Einheit der Nation. Mauer, Sperrmaßnahmen, Schießbefehl und Reiserestriktionen passten nicht mehr in die Phase neuer weltpolitischer Entwicklungen (ebd.).
Konkrete Ergebnisse
Bereits am 8. September wurde ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlicht, in dem beide Seiten ihre Absicht bekräftigten, „im Sinne des Grundlagenvertrages normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu entwickeln und die Möglichkeiten des Vertrages weiter auszuschöpfen.“ Konkret ist etwa von Verbesserungen im Tourismus, im Eisenbahnverkehr oder in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit die Rede. Auch ein Gegenbesuch von Kohl in der DDR wurde vereinbart. Die Frage der deutschen Einheit wurde in dem Kommuniqué nicht angesprochen – sie stand auch während des Besuchs – unbeschadet von Kohls wiederholten Bekenntnissen, daran festhalten zu wollen, nicht wirklich zur Diskussion. Der Bundeskanzler hatte ja in seiner Tischrede selbst betont: „Die Deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte.“ Weiterhin wurden im Rahmen des Besuchs von den jeweils zuständigen Fachministern drei Abkommen unterzeichnet, und zwar über die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, über die weitere Gestaltung der Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes und über Informations- und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strahlenschutzes.
Fazit
Nach den Worten von Außenminister Hans-Dietrich Genscher bedeutete der Honecker-Besuch einen „tiefen Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte.“ (zit. Der Stern, 10.9.1987) Für die DDR lag die Bedeutung weniger in den unterzeichneten Abkommen als in der vor aller Welt sichtbar gewordenen Gleichberechtigung der DDR mit der Bundesrepublik. (Zimmer, 217) Kanzleramtschef Schäuble begründete die in dem Staatsempfang für Honecker sichtbar werdende Anpassung an die Realität der Zweistaatlichkeit mit der Hoffnung auf weitere humanitäre Erleichterungen, insbesondere im wechselseitigen Reiseverkehr, und er konnte auf die in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegenen Zahlen bei den Westreisegenehmigungen für DDR-Bürger hinweisen. Honecker selbst teilte gleich bei seinem ersten Gespräch mit Kohl mit, dass in den ersten acht Monaten des Jahres 1987 3.2 Millionen Besucher aus der DDR in die BRD reisen konnten, davon 866.000 unterhalb des Rentenalters.
Honecker beurteilte kurz vor seinem Rückflug nach Ost-Berlin seine Reise als „zeitgemäß, zweckmäßig und nützlich“. Die erreichten Ergebnisse und Abkommen seien ein Erfolg der Politik der Vernunft und des Realismus und bedeuteten einen Gewinn für die Menschen und für den Frieden. Wie immer wieder während des Besuchs stellte der DDR-Staatschef hier die Themen Frieden, Abrüstung und Realität der Zweistaatlichkeit in den Vordergrund, während Kohl durchweg das Offenhalten der Deutschen Frage, den Wunsch nach Freiheit, nationaler Einheit und nach umfassender Gewährung der Menschenrechte betonte. Der Bundeskanzler bezeichnete in einer ersten Bilanz vor dem Deutschen Bundestag am 10. September 1987 den Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden als erfolgversprechend, machte aber auch klar, dass die Verankerung im westlichen Bündnis und in der EG sowie das Festhalten an der Einheit der Nation die Grundlage der Deutschlandpolitik der Bundesregierung blieben.
Die fundamentalen Gegensätze in der Beurteilung der Deutschen Frage konnte der Besuch also nicht aufweichen, geschweige denn beseitigen. Auch dass die beiden Protagonisten, Kohl und Honecker, ein Verhältnis zueinander gefunden hätten, konnte nicht beobachtet werden. Aber dass von dem Besuch eine gewisse Dynamik der kleinen Schritte hin zu weiterer Normalisierung, praktischer Vernunft und zu Erleichterungen im wechselseitigen Umgang zum Wohl der Menschen auf beiden Seiten – Reise- und Besucherverkehr, Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, Sport, wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit u.v.a.m. – ausging, ist keineswegs zu leugnen. Dies betonte der Bundeskanzler erneut in seinem Bericht zur Lage der Nation am 15. Oktober 1987 im Deutschen Bundestag.
Quellen (Auswahl):
- Hertle, Hans-Hermann/Rainer Weinert/Manfred Wilke: Der Staatsbesuch. Honecker in Bonn: Dokumente zur deutsch-deutschen Konstellation des Jahres 1987. Berlin 1991.
- Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982-1990. München 2005.
- Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III, Bd. 5: 1987. Redaktionelle Bearbeitung: Gesamtdeutsches Institut/Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben; hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bonn 1988.
Literaturhinweise:
- Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen (Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages); hrsg. vom Deutschen Bundestag; Bd. V/1). Baden-Baden 1995.
- Glaab, Manuela: Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 1999; hrsg. von Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte. Bonn 1999, S. 239-252.
- Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989 (Geschichte der deutschen Einheit; Bd. 1). Stuttgart 1998.
- Maibaum, Werner: Geschichte der Deutschlandpolitik; hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1998.
- Potthoff, Heinrich: Die „Koalition der Vernunft“. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren (dtv-Dokumente; 2974). München 1995.
- Zimmer, Matthias: Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982-1989 (Studien zur Politik; Bd. 18). Paderborn/München/Wien/Zürich 1992.
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Besetzung der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (Normannenstraße)
Am 15. Januar 1990 stürmten Demonstranten die Zentrale der ehemaligen Staatssicherheit der DDR in Berlin, um die Vernichtung der Akten zu verhindern. Das Ende der SED-Herrschaft
Sobald im November/Dezember 1989 der konstitutionelle Abbau der SED-Herrschaft in der DDR eingesetzt hatte – am 1. Dezember wurde der Führungsanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ aus der DDR-Verfassung gestrichen – begann sich das Hauptaugenmerk der Öffentlichkeit auf die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit zu richten. Was jeder geahnt und viele genauer gewusst hatten, die flächendeckende Durchsetzung der DDR-Gesellschaft mit „Informellen Mitarbeitern“ (IM) - vulgo Spitzeln - des MfS wurde jetzt offen diskutiert. Sofort erhob sich die Forderung nach Auflösung des selbsternannten „Schwerts und Schilds der Partei“ und der Aufarbeitung ihrer Geschichte.
Die Auflösung der Stasi
Am 4. Dezember 1989 kam es in einigen Städten der DDR zu Demonstrationen vor den örtlichen Stasi-Zentralen, die in Rostock, Erfurt und Leipzig zur Besetzung der Dienstgebäude und Sicherstellung der Akten durch Bürgerkomitees führten. Gleichzeitig mehrten sich die Zeichen, dass die Staatssicherheit einerseits Akten vernichtete und Beziehungen zu IMs „einfror“, andererseits aber auf verschiedenen Ebenen um das institutionelle Überleben kämpfte. So sollten Schmierereien auf dem sowjetischen Ehrenmal in Berlin am 28. Dezember 1989 – aller Wahrscheinlichkeit nach vom ehemaligen MfS selbst inszeniert – wohl der Öffentlichkeit deutlich machen, dass man gegen den angeblichen „Faschismus“ einen starken Sicherheitsdienst brauche. Die Regierung Modrow hatte noch im November 1989 versucht, durch die Umbenennung der Staatssicherheit in „Amt für Nationale Sicherheit“ einen Neuanfang zu signalisieren. Allerdings ließ sich die Öffentlichkeit dadurch nicht täuschen. Der „Runde Tisch“, der sich im Dezember als die einzige allgemein akzeptierte politische Lenkungsstruktur in der DDR durchsetzte, beschloss die Auflösung des „Amtes für Nationale Sicherheit“.
Die Besetzung der Normannenstrasse
Anfang Januar 1990 verstärkte sich der öffentliche Druck, möglichen Vertuschungsaktionen entgegenzuwirken. Der Runde Tisch verlangte in seiner Sitzung am 15. Januar 1990 vom DDR-Ministerpräsidenten Modrow Aufklärung über die Größe und Struktur des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Eine von der Bürgerrechtsorganisation „Neues Forum“ organisierte Demonstration am Abend desselben Tages vor der Stasizentrale in der Berliner Normannenstrasse wurde aus dem Gebäude heraus mit Aktenmaterial beworfen. Die Demonstranten drangen in das Gebäude ein, Bürgerrechtler konnten aber eine Eskalation verhindern. Ein ad hoc gebildetes Komitee übernahm die Sicherstellung der noch vorhandenen Unterlagen.
Die Behauptung, dass nur die Besonnenheit der Mitarbeiter des ehemaligen MfS ein Blutbad verhindert habe, gehört in das Reich der Legenden: in Wirklichkeit war die Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt schon im Zerfall begriffen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass einzelne Stasiführungsoffiziere ihre IMs unter den Bürgerrechtlern ermutigt hätten, sich am Sturm zu beteiligen, um dann im Chaos der Besetzung besser Akten vernichten zu können. Dem steht entgegen, dass es im Vorfeld kaum Hindernisse bei der Aktenvernichtung gab.
Hochproblematisch war, dass nicht nur der sowjetische Geheimdienst sich ungeniert bemühte, aus der Erbmasse der Staatssicherheit Vorteile für eigene geheimdienstliche Aktivitäten in Deutschland zu ziehen. Die amerikanischen Nachrichtendienste etwa besorgten sich ein Verzeichnis der Auslandsmitarbeiter der Hauptverwaltung Ausland des MfS (die sogenannten Rosenholz-Dateien) und gaben dies erst 2003 nach massiven politischen Interventionen an die Bundesrepublik heraus.
Die Aufarbeitung
In den auf die Besetzung folgenden Monaten begannen erst Bürgerrechtler, später verstärkt durch fachlich ausgebildete Historiker und Archivare, mit der Rekonstruktion der Aktenbestände und der Arbeitsweise und Verbrechen des MfS. Organisiert wurde die Arbeit als eigenständige Behörde unter ihrem ersten Chef, dem Rostocker Pfarrer Joachim Gauck. Bei allen Problemen in Einzelfällen ist doch festzuhalten, dass die Aufarbeitung der Arbeit des Staatssicherheitsdienstes in Deutschland, so wie sie im Stasi-Unterlagengesetz von 1991 definiert wurde, wesentlich zur politischen Hygiene und Vertiefung der demokratischen Kultur im vereinten Deutschland beigetragen hat und heute von vielen ehemaligen Oppositionellen aus den früheren Ostblockstaaten als beispielhaft angesehen wird.
Text von Wolfgang Tischner
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Volksaufstand in Ost-Berlin und in der DDR
Die Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee gaben das Signal für einen Volksaufstand, der am folgenden Tag fast die gesamte DDR erfasste. Als am Morgen des 16. Juni 1953 die Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee die Arbeit niederlegten und eine Abschaffung der erhöhten Arbeitsnormen forderten, war dies das Signal für einen Volksaufstand im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, der am folgenden Tag fast die gesamte DDR erfasste. Allerdings kam dies mitnichten unerwartet: seit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, bei der der starke Mann der SED, Walter Ulbricht, den „beschleunigten Aufbau des Sozialismus“ in der DDR verkündete, hatte sich die Wut in der ostdeutschen Bevölkerung aufgebaut.
Der Weg zum 17. Juni
Im Frühjahr 1952 lehnte die von Konrad Adenauer geführte Bundesregierung die Offerte der Stalinnote ab, Verhandlungen mit dem Ziel gesamtdeutscher Wahlen und einem neutralisierten, vereinigten Deutschland aufzunehmen. Vor dem Hintergrund der sowjetischen Politik der Nachkriegsjahre ging Adenauer nicht von einem ernstgemeinten Angebot Stalins aus. In der DDR war diese Ablehnung der Vorwand, auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 in Ost-Berlin den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ zu forcieren. Die Schwerindustrie sollte massiv zu Lasten insbesondere der Konsumgüterindustrie und der noch in Privathand befindlichen Betriebe ausgebaut werden, die Aufrüstung der DDR beschleunigt und die ideologischen Gegner bekämpft werden.
In den folgenden Monaten, besonders seit Jahresanfang 1953, verstärkte sich die Repression. Die Bauern wurden durch kaum erfüllbare Ablieferungszwänge, die sich nicht an den tatsächlichen Erträgen orientierten, zum Eintritt in die „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ (LPG) gezwungen, Verweigerer massiv unter Druck gesetzt und häufig polizeilich schikaniert und verfolgt. Ein besonderes Augenmerk der SED galt den Kirchen als dem „letzten organisierten Feind des Sozialismus“. Besonders die Jugendbewegung der Kirchen war der Partei ein Dorn im Auge, da die evangelische „Junge Gemeinde“ und die katholische Pfarrjugend in den „Erweiterten Oberschulen“ sehr großen Zuspruch fanden. Im Frühjahr 1953 wurde deshalb damit begonnen, engagierte Mitglieder der kirchlichen Jugend von den Oberschulen zu relegieren, ein Verfahren, das mit der Kritik vor der versammelten Schülerschaft schon Züge eines Schauprozesses aufwies. Der Vorwurf lautete in der Regel, dass die Mitglieder der „Jungen Gemeinde“ „Agenten der amerikanischen Imperialisten“ seien. (Gut eingefangen hat die Atmosphäre jener Monate Uwe Johnson in seinem autobiographischen Roman „Ingrid Babendererde“.) Wohl mehr als 3000 Oberschüler wurden der Schule verwiesen.
Die Repression beschränkte sich allerdings nicht nur auf Bauern und Kirchen, auch innerhalb der SED wurde verstärkt nach „Abweichlern“ gefahndet und ein absurder Personenkult um Stalin betrieben. Da außerdem die Finanzlage der DDR immer prekärer wurde und die steigende Zahl der „Republikflüchtigen“ sowie eine forcierte Aufrüstung die Wirtschaft zunehmend belasteten, wurde ein ambitioniertes Sparprogramm aufgelegt. Vergünstigungen wie verbilligte Straßenbahnfahrkarten für Arbeiter wurden abgeschafft und noch am 28. Mai 1953 über die Erhöhnung der Arbeitsnormen zum 1. Juni de facto die Löhne der abhängig Beschäftigten spürbar gekürzt.
Der Tod des „größten Freundes des deutschen Volkes, des Generalissimus Stalin“, wie ihn die SED-Propaganda betitelte, am 5. März 1953, veränderte die politischen Rahmenbedingungen grundlegend. Innerhalb der KPdSU-Führung brach ein Machtkampf aus, bei dem zunächst der Geheimdienstchef Lawrentij Berija die Oberhand hatte. Berija, der maßgeblich am stalinistischen Terror der 1930er Jahre beteiligt gewesen war, hatte aufgrund seines Informationsvorsprungs eine klare Vorstellung von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Ostblock. Er suchte deshalb, soweit sich seine Konzeption rekonstruieren lässt, die temporäre Entspannung mit den USA, um eine Atempause zur wirtschaftlichen Herrschaftsstabilisierung nutzen zu können. Die Nachrichten aus der DDR, dem wichtigsten, aber auch gefährdetsten sowjetischen Satellitenstaat waren dabei Wasser auf seine Mühlen: der bedrohliche Anstieg von „Republikfluchten“ enteigneter Bauern und relegierter Oberschüler waren für den sowjetischen Hohen Kommissar Wladimir Semjonow klare Warnzeichen, dass eine gewaltsame Erhebung drohte. Zudem gab es innerhalb des SED-Politbüros um den Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, Rudolf Herrnstadt, einen ehemaligen Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes, und den MfS-Chef Wilhelm Zaisser eine Gruppierung, die aus machttaktischen Erwägungen die forcierte Sozialisierung kritisierte und vermutlich Berija auf dem Laufenden hielt. Diese Kreise konnten sich zwar innerhalb der SED-Führung zunächst nicht durchsetzen, doch wandte sich das Blatt, als Anfang Juni 1953 Berija die Notbremse zog und das SED-Politbüro zum Rapport nach Moskau einbestellte.
Der Aufstand
Der Besuch von Mitgliedern der SED-Spitze in Moskau vom 2. bis 4. Juni 1953 markiert den eigentlichen Wendepunkt in der Vorgeschichte des Aufstandes. Die Parteispitze um Ulbricht wurde nicht im Unklaren darüber gelassen, wer letztlich das Sagen in der DDR hatte, und auf ein Memorandum festgelegt, in dem die sowjetische Parteiführung eindeutig den Rahmen abgesteckt hatte: Die „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“ wiesen die SED u.a. an, den Kirchenkampf abzubrechen und die relegierten Oberschüler wieder zuzulassen, den verschärften Aufbau der Schwerindustrie zeitlich zu strecken, das Ablieferungssoll für Bauern abzusenken und die Normerhöhungen zurückzunehmen. Bedenken der ostdeutschen Kommunisten, dass eine so deutliche Kursänderung als Schwäche gedeutet werden könnte, wischten die Sowjets vom Tisch. Der SED, in der Ulbricht jetzt de facto entmachtet war, blieb nichts anderes übrig, als die Vorgaben als „Neuer Kurs“ am 9. Juni selbst zu beschließen und am 11. Juni durch das „Neue Deutschland“ verkünden zu lassen. In einem wesentlichen Punkt setzte die SED die sowjetischen Anweisungen allerdings nicht um: die Normerhöhung wurde nicht zurückgenommen, sondern in der Gewerkschaftspresse sogar noch verteidigt. Mit Vertretern der evangelischen Kirche kam es am 10. Juni zu einem Treffen, dessen Ergebnisse in der Tagespresse verkündet wurden. Die DDR-Bevölkerung, mittlerweile geübt im Zwischen-den-Zeilen-lesen, erkannte das Zurückweichen der Regierung. Die Arbeiterschaft allerdings sah sich benachteiligt, da die Normerhöhungen blieben.
In den Tagen nach der Verkündung des „Neuen Kurses“ verstärkten sich widerständige Handlungen in der ganzen DDR; sie reichten von der Rückkehr geflohener Bauern über die Selbstauflösung von LPGs bis hin zu ersten politischen Forderungen. Mit der Arbeitsniederlegung der Bauarbeiter an dem Vorzeigeprojekt der DDR, der Bebauung der Ost-Berliner Stalinalle am Vormittag des 16. Juni eskalierte die Situation. Über den westlichen Rundfunk erfuhr bis zum Abend die gesamte DDR-Bevölkerung davon, so dass am nächsten Tag überall gestreikt wurde. Am 17. Juni floh die Parteiführung in den Schutz der sowjetischen Besatzungstruppen und trat politisch nicht in Erscheinung, so dass ein sowjetischer Bericht von „Feigheit und Konfusion“ der SED-Spitze spricht. Demonstranten zogen durch das Regierungsviertel, die Ministeriumsmitarbeiter schlossen sich an, am Brandenburger Tor wurde die rote Fahne heruntergerissen und verbrannt. Der Vorsitzende der Ost-CDU, Otto Nuschke , wurde von Demonstranten nach West-Berlin verbracht und dort der Polizei übergeben.
In fast allen größeren Industriebetrieben der DDR und Ost-Berlins wurde am 17. Juni gestreikt, häufig auch Streikleitungen gewählt und SED-, FDGB- und FDJ-Funktionäre für abgesetzt erklärt. In den größeren Städten kam es häufig zu Gefangenenbefreiungen, oft wurden die Dienststellen des MfS gestürmt und verwüstet. In der Regel gaben die anwesenden SED-Funktionäre Warnschüsse ab und ergaben sich dann, stellenweise kam es jedoch zu regelrechten Kämpfen, so in Magdeburg mit sechs Toten und etwa 50 Verletzten.
Eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung der Kenntnisse vom Aufstand und seinem Verlauf spielte der Rundfunk im amerikanischen Sektor, der RIAS. West-Berlin war nicht nur das „Schaufenster der freien Welt“, sondern auch der über die Sektorengrenze erreichbare Schutzraum für die Aufständischen. Die kommunistischen Machthaber sahen sich mit einer Nachrichtenquelle konfrontiert, die bei der DDR-Bevölkerung ungleich höheres Ansehen als der Rundfunk der DDR genoss und ungeschminkt über die Missstände in Ost-Berlin informierte.
Sieht man sich die regionale Verteilung der Streiks und Aufstandshandlungen an, so ergibt sich eine frappierende Übereinstimmung mit den späteren Schwerpunkten der „Friedlichen Revolution“ 1989. Es wurde die ganze DDR erfasst, überall lassen sich widerständige Handlungen nachweisen, doch gibt es eine klare Nord-Süd-Zunahme der Dichte dieser Handlungen. Die Schwerpunkte lagen in den Berliner Baustellen, dem Berliner Industriegürtel und den thüringer und sächsischen Bezirken. In zwei sächsischen Ortschaften, Görlitz und Niesky, schlug der Aufstand sogar in eine regelrechte Revolution um, da dort die Bürgermeister abgesetzt und eigene überbetriebliche Streikleitungen etabliert wurden.
Aus den Akten der Volkspolizei lassen sich recht genau die Forderungen der Aufständischen rekonstruieren. Es begann fast immer mit begrenzten, lokalen Forderungen, etwa bei den Bauarbeitern mit der Forderung nach Aufhebung der Arbeitsnormen oder auf dem Land nach der Auflösung der LPGs, der Senkung des Ablieferungssolls für freie Bauern etc. Innerhalb weniger Stunden wandelte sich dies zu allgemeinpolitischen Forderungen nach freien Wahlen, der deutschen Einheit und insbesondere der Ablösung der SED- und Staatsspitze: „Weg mit Bart und Brille, das ist des Volkes Wille!“ hieß es oft mit Bezug auf die Brille des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und den Spitzbart Walter Ulbrichts.
Eine besondere Rolle während des Aufstandes spielte die Kasernierte Volkspolizei (KVP). Dabei handelte es sich in Wirklichkeit um die Streitkräfte der DDR, die im Rahmen eines geheimen Aufrüstungsprogramms ausgebildet und von der Sowjetunion mit größtenteils veralteten Waffen ausgerüstet wurden. Da der Ausbildungsstand niedrig war und ein wesentliches Motiv vieler KVP-Angehöriger im vergleichsweise hohen Sold und den Lebensmittel-Zuteilungen zu suchen war, erwies sich ihr Einsatz während des Aufstandes als wenig effektiv. Gleiches ergaben auch interne Überprüfungen der verschiedenen regulären Volkspolizei-Einheiten nach dem Aufstand: in etlichen Fällen hatte es klare Sympathiebekundungen von VP-Angehörigen mit Aufständischen gegeben, oft hatten sich die Volkspolizisten die Waffen abnehmen lassen und – aus der SED-Perspektive – nicht entschieden genug regiert. Ein oft von Demonstranten geäußerter Vorwurf war, dass sich die Volkspolizei zum Handlanger der Besatzungsmacht machen würde, was schon ihr Erscheinungsbild zeige: „Jungs, zieht doch die Russenuniformen aus!“ Die spätere Ausrichtung der „Nationalen Volksarmee“ der DDR, die sich viel offener als die Bundeswehr an deutsche Militärtraditionen anlehnte, trug diesen Erfahrungen Rechnung.
Ohne den Einsatz der sowjetischen Armee wäre der Aufstand wohl nicht gescheitert, da sich die Machtmittel des SED-Regimes nur als bedingt einsatzbereit erwiesen. Die Sowjets rückten mit Panzertruppen in den größeren Städten der DDR bzw. in Ost-Berlin ein und besetzten die Stadtzentren und die wichtigsten Industriebetriebe und verkündeten den Ausnahmezustand. Dieser Aufmarsch beendete de facto den Aufstand. Auch nach Einschätzung ihrer sowjetischen Beschützer, das geht aus den seit einigen Jahren publizierten sowjetischen Geheimdienstberichten zum 17. Juni hervor, wäre die SED nicht in der Lage gewesen, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Stellenweise kam es zu Schüssen auf Demonstranten. Trotz der heute präsenten Bilder von Panzern waren Straßenkämpfe nicht das beherrschende Szenario und das Vorgehen der Roten Armee eindeutig von dem Befehl geprägt, sowenig Gewalt wie möglich anzuwenden. Die Gesamtzahl von unter hundert Toten, von denen man mittlerweile ausgeht, war – gemessen an der Anzahl der Demonstranten und Streikenden – eher gering. Wäre ein vergleichbarer Aufstand in der UdSSR selbst ausgebrochen, wäre wohl sofort rücksichtslos in die Menge geschossen worden – was in der DDR nicht geschah. In Ost-Berlin, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, hielt sich die Besatzungsmacht deutlich zurück.
Die Folgen
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hatte auf fast allen Feldern der DDR-Politik weitreichende Folgen. Innerhalb der SED war paradoxerweise der zurückhaltendere Kurs der Gruppe Herrnstadt/Zaisser diskreditiert, und auch in der Sowjetunion trug der Aufstand zum Sturz Berijas am 26. Juni 1953 bei. Der eigentlich schon abgelöste Walter Ulbricht wurde ungewollter Weise von den Aufständischen gerettet. Ulbricht hatte allerdings die sowjetische Warnung verstanden und setzte die Anweisungen, die Anfang Juni in Moskau ergangen waren, nach dem Aufstand auch um. Soweit zu ersehen, wurden die noch in der DDR befindlichen, relegierten Schüler wieder auf den Schulen zugelassen, der offene Kirchenkampf wurde eingestellt und auch die mit den Kirchen vereinbarten Punkte umgesetzt. Die Aufständischen, die sich nicht in die Bundesrepublik oder die Berliner Westsektoren absetzen konnten, wurden zu harten Strafen verurteilt. Allerdings gab es vergleichsweise wenig Verfahren, v.a. wenn man bedenkt, dass es am 17. und 18. Juni schon etwa 1500 Verhaftungen gab. Grundsätzlich reden fast alle Augenzeugenberichte von einem überaus vorsichtigen Vorgehen von Partei und Volkspolizei nach dem 17. Juni. Auch in den Haftanstalten, etwa im berüchtigten „gelben Elend“ in Bautzen, führte die Furcht vor einem neuen Aufstand zu einer phasenweise deutlichen Verbesserung der Haftbedingungen. In der DDR-offiziellen Deutung wurde aus dem Volksaufstand schnell der „Tag X“, an dem „westliche Agenten“ und „faschistoide Elemente“ in der DDR einen „konterrevolutionären Putsch“ angezettelt hätten. Als Reaktion auf das – aus SED-Perspektive – „Versagen“ der Sicherheitskräfte wurde die Staatssicherheit massiv ausgebaut und mit den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ eine Art Betriebsmiliz geschaffen, die zukünftig Aufstände verhindern sollte. 1989 waren es allerdings gerade die „Kampfgruppen“, die häufig den Einsatz gegen friedliche Demonstranten verweigerten.
In der Bundesrepublik legitimierte der Aufstand im Nachhinein Adenauers Ablehnung der Stalinnote und trug zur Überzeugung bei, dass eben „Freiheit vor Einheit“ erreicht werden müsse. Der deutliche Wahlsieg der Union in den Bundestagswahlen vom September 1953 war auch eine Reaktion auf die Niederschlagung des Volksaufstandes. Sehr bald wurde von linker Seite versucht, aus der Volkserhebung einen reinen „Arbeiteraufstand“ zu machen, doch zeigt die Forschung deutlich, dass die gesamte DDR-Bevölkerung gegen die SED-Diktatur aufbegehrt hatte. In dieser Hinsicht ergibt sich eine Linie zwischen dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und der Friedlichen Revolution 1989.
Literaturreport:
Zum 60. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR sind einige neue Publikationen erschienen:
Eine wichtige Quelle zur politischen Sozialgeschichte der DDR ist die von Daniela Münkel im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR herausgegebene Edition „1953. Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung“ (Göttingen 2013). Der 17. Juni 1953 wird darin als doppeltes Trauma der DDR-Geschichte verstanden: Einerseits als Trauma einer unvollendeten Revolution, sodann als Trauma der SED-Funktionselite, der das Volk abhanden kam. Dieses Trauma verschärfte nicht nur die Krise, sondern beherrschte auch die folgenden Jahre die Politik in der DDR. Insofern ist das Jahr 1953 eine Zäsur, zumal nach dem Volksaufstand die Professionalisierung des Ministeriums für Staatssicherheit voranschreitet. Die Edition versammelt Lage-Berichte zum Juni-Aufstand. Thematisch geht es um politische Konfliktherde, Versorgungsprobleme und die Stimmung in der Bevölkerung. Die Edition, die auf einer beigefügten CD-Rom komplett abrufbar ist, wird ergänzt durch kurze Kommentare zu Begriffen, Ereignissen und einzelnen Sachverhalten.
Jens Schönes populärwissenschaftliches und gut lesbares Buch „Volksaufstand. Der 17. Juni 1953 in Berlin und der DDR“ (Berlin 2013) liefert einen gut bebilderten und durch Dokumente angereicherten Überblick über die Geschehnisse des 17. Juni 1953. Das Buch ist auf Grund der Konzentration auf wesentliche Aspekte und der Übersichtlichkeit eine ideale Einführung in das Thema.
Dies gilt auch für Ilko-Sascha Kowalczuks Publikation „17. Juni 1953“ in der C.H. Beck-Reihe Wissen (München 2013). Geschichtspolitische Aspekte aufgreifend geht es der Frage nach dem Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte nach. Allerdings sei die Frage nach dem Ort des Volksaufstands innerhalb der europäischen Geschichte, so der Autor, sei bis dato nicht wirklich gestellt worden. Auch Aspekte des kollektiven Gedächtnisses sind seiner Meinung stärker als bisher geschehen hervorzuheben.
In Andreas H. Apelts herausgegebenem Band „Neuanfang im Westen 1949-1989. Zeitzeugen berichten“ (Halle 2013) kommen bekannte und weniger bekannte Menschen zu Wort, die aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtet, ausgereist oder freigekauft worden sind. Dabei handelt es sich um persönliche Lebensgeschichten, die allesamt den Wunsch nach Freiheit zum Ausdruck bringen. Der 17. Juni 1953 war, so heißt es, „die erste Rebellion gegen eine Diktatur … Eine Tatsache, die wir vergessen haben. Deshalb ist es uns so leicht gefallen, diesen Feiertag abzuschaffen. Der Aufstand zerschellte an sowjetischen Panzern. Das Scheitern war folgenreich. Damals verankerte sich ein Vergeblichkeitsbewusstsein in den Köpfen der Zeitgenossen in der DDR … Wer in der DDR essenziell und grundlegend verändern möchte, prallt gegen Panzerplatten. Und die sind in der Sowjetunion gehärtet worden.“
Hans Bentzien, Kulturminister unter Walter Ulbricht, liefert in „Was geschah am 17. Juni?“ (Berlin 2013) in dritter Auflage die Hintergründe, die zum Aufstand am 17. Juni 1953 führten. Das Buch fokussiert zudem unterschiedliche Strömungen innerhalb der Aufständischen und geht der Frage nach, was aus dem 17. Juni geworden ist. Bentziens Antwort: Einst verdrängt, rückt der 17. Juni 1953 spätestens seit dem 50. Jahrestag verstärkt ins öffentliche Bewusstsein als ein Tag, der die deutsch-deutsche Geschichte maßgeblich geprägt hat.
Bereits der 50. Jahrestag des Volksaufstands löste eine neue Publikationswelle aus:
Hubertus Knabes umfassende Monografie „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“ (München 2003) unterstreicht die Feststellung, der 17. Juni 1953 sei ein Schicksalstag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es gelingt Knabe, in einer flüssig geschriebenen Darstellung auch dem wissenschaftlichen Anspruch an das Thema zu genügen. Zwei Bildtteile, ein Ortsregister und eine Karte mit den Schauplätzen des Volksaufstands komplettieren diese hervorragende Einführung. Knabe interpretiert den 17. Juni nicht nur als Schlüsselereignis der deutschen Geschichte; er vergleicht darüber hinaus die Massenerhebung der Arbeiter 1953 mit dem von der Kirche initiierten Widerstand am 9. November 1989.
Auch der von Hans-Joachim Veen herausgegebene Sammelband „Die abgeschnittene Revolution. Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte“ (Köln u.a. 2004) charakterisiert den 17. Juni 1953 als Schlüsseldatum der deutschen Geschichte. Der Band erschien in einer Schriftenreihe der Stiftung Ettersberg: Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Der von der SED vorgenommene abrupte Kurswechsel („Neuer Kurs“), Anfang Juni von Moskau diktiert, war, so das Fazit des Bandes, nicht zuletzt eine Folge der ökonomischen Probleme. Ohnehin war die Wirtschaft die „Achillesferse“ des kommunistischen Systems. Hans-Peter Schwarz sieht im 17. Juni eine „unvollendete, frühzeitig kupierte Revolution“, die diese Achillesferse erfolglos attackiert. Erfolglos ist sie laut Lutz Niethammer vor allem deshalb, weil es in der DDR keine alternative politische Elite gab, die die Revolution hätte zu Ende führen können.
Unter besonderer Berücksichtigung der militärhistorischen Aspekte widmet sich Torsten Diedrich in „Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni in der DDR“ (München 2003) den Ursachen, dem Verlauf und den Folgen der deutschen Demokratiebewegung. Der 17. Juni wird als Erhebung gegen das stalinistische Gesellschaftssystem gedeutet. Er sei ein Albtraum der Herrschenden gewesen. Die Etablierung des inneren Sicherheitssystems in der Folgezeit sei ein Resultat dieses Traumas, „welches die herrschende Arbeiterregierung als offenkundige Delegitimierung durch das Volk erlebte.“ Die gesteigerte Bedrohungsperzeption der SED-Führung sei ablesbar an den Mechanismen der Überwachung und der gesteigerten Kontrolle über das Volk. „Mit Zuckerbrot und Peitsche“ habe die SED fortan die DDR regiert.
Das von Bernd Eisenfeld und anderen publizierte Buch „Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte“ (Bremen 2004) ist eine überaus komplexe Darstellung über die langfristigen Wirkungen des 17. Juni. Auch hier wird ein Vergleich mit dem 9. November 1989 gezogen und eine zeithistorische Kontextualisierung vorgenommen. Das Buch trägt zahlreiches empirisches Material zusammen und liefert einige Erklärungsmodelle des Totalitarismus. Es bietet zudem eine Rezeptionsgeschichte und fragt nach der Bedeutung des 17. Juni 1953 in der Gegenwart. Ein umfangreicher Bildteil inklusiver ästhetischer Auseinandersetzungen rundet den Band ab.
Thomas Flemmings Buch mit dem provokanten Titel „Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953“ (Berlin 2003) geht insbesondere den Reaktionen des Westens auf den Volksaufstand nach und skizziert den Weg der DDR in die Krise, deren Höhepunkt der 17. Juni war. Das Buch behandelt darüber hinaus die Zentren des Aufstands mit Hilfe zahlreicher, wenn auch allgemein bekannter Quellen und Bilder.
Fazit: Hintergründe, Ablauf und Wirkungen sowie der überwiegende Teil des Bildmaterials sind allgemein bekannt und liefern wenig neue Fakten. Verstärkt schauen Historiker nun allerdings auf die ländlichen Regionen, in denen der Aufstand stattfand. Einzelne Aspekte, Zeitzeugenberichte und Quellen, die bislang wenig Berücksichtigung fanden, werden stärker betont und komplettieren unser Bild vom 17. Juni 1953 als einem Schicksalstag der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte.
Weitere Literatur:
- Ein Aufstand für die Freiheit. 17. Juni 1953, hrsg. v. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin 2003.
- Sabine Bergmann-Pohl u. a., Podiumsdiskussion: 1953-1989. Deutschland auf dem Weg zu Einheit in Freiheit aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, Berlin 2003.
- Peter Bruhn, „Wir wollen freie Menschen sein!“. 50 Jahre 17. Juni 1953 Bibliographie, Berlin 2003.
- Roger Engelmann u. Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953 (Analysen und Dokumente 27), Göttingen 2005.
- Karl W. Fricke u. Roger Engelmann, Der »Tag X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat (Analysen und Dokumente 24), Bremen 2003.
- András B. Hegedüs u. Manfred Wilke (Hg.), Satelliten nach Stalins Tod. Der „Neue Kurs“. 17. Juni 1953 in der DDR. Ungarische Revolution 1956 *(Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin), Berlin 2000.
- Klaus-Dieter Müller u. a. (Hg.), Der 17. Juni 1953 im Spiegel sowjetischer Geheimdienstdokumente. 33 geheime MWD-Berichte über das Geschehen in der DDR (Zeitfenster. Beiträge der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Zeitgeschichte 4), Leipzig 2008.
- Wolfgang Tischner, Die Kirchen im Umfeld des Volksaufstands vom 17. Juni 1953, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Heft 7 (2000).
2892338 -
Bau der Mauer in Berlin
In der Woche vor dem Mauerbau stieg die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft an. Allein im Juli 1961 wurden 30.415 Anträge auf Notaufnahme registriert. Im Vergleich zum Vormonat stieg die Zahl der Flüchtlinge um mehr als 50 Prozent, gegenüber dem Vorjahr um fast 100 Prozent.
Mit der Errichtung der Berliner Mauer wurde die Fluchtbewegung aus der DDR gewaltsam gestoppt. In der Nacht vom 12. auf den 13.8.1961 begannen sowjetische und DDR-Verbände (Volkspolizei, Nationale Volksarmee und Betriebskampfgruppen) eine Grenze mit Stacheldraht zu den Westsektoren Berlins zu errichten, die bald darauf durch eine Mauer aus Hohlblocksteinen und Betonpfählen ersetzt wurde. Die lange vorbereitete Aktion wurde technisch präzise innerhalb weniger Tage durchgeführt. Die Initiatoren waren sich des Risikos durchaus bewusst, da sich die Reaktion des Westens auf die Verletzung des Vier-Mächte-Status Gesamtberlins nicht kalkulieren ließ. Die westliche Reaktion fiel jedoch überraschend zurückhaltend aus. Mit dem Mauerbau wurde deutlich, dass die USA die Interessen und die Einflusssphäre der UdSSR respektierten, ebenso wie dies umgekehrt in der Kuba-Krise des Jahres 1962 bei der Sowjetunion sichtbar wurde. Die Teilung Deutschlands gehörte inzwischen zum Status quo zwischen den Siegermächten.
Die Mauer blieb und wurde ebenso wie die gesamte innerdeutsche Grenze auf insgesamt 1.393 Kilometern durch Kontrollstreifen, Minenfelder, Wachtürme, Gräben, Hundelaufanlagen und Selbstschussautomaten perfektioniert. Die Überwachung der Grenze fand durch die Grenztruppen der DDR (insgesamt ca. 47.000 Mann) statt. Der Schießbefehl sollte die Überwindung der Grenzanlagen durch Flüchtlinge verhindern. Entlang der Sperranlagen erstreckte sich das Grenzgebiet mit Schutzstreifen und Sperrzonen, das ebenfalls kontrolliert wurde und nur mit einem Sonderausweis betreten werden durfte. Diese Sperrmaßnahmen sollten jeglichen Kontakt zwischen Freunden und Verwandten im beiderseitigen Grenzgebiet, vor allem jedoch die Flucht aus der DDR in den freien Teil Deutschlands verhindern. Die letzte Fluchtmöglichkeit war somit versperrt, Deutschland allem Anschein nach endgültig geteilt.
Die tatsächlichen Ursachen dafür, dass so viele Menschen fliehen bzw. ausreisen wollten, lagen sowohl in dem Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR als auch in der Unfreiheit des Individuums. Dem SED-Regime fehlte es einerseits an Legitimation, andererseits war es entschlossen, die „sozialistische Umgestaltung“ massiv zu forcieren. Die Existenz der DDR war damit an eine strikte Abschottung durch Mauer und Stacheldraht gebunden, die von der Sowjetunion und den anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes politisch abgesegnet worden war.
Nach Angaben der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) sind nach bisherigen Erkenntnissen zwischen 1949 und 1989 insgesamt 420 Menschen bei Fluchtversuchen aus der DDR getötet worden. 154 starben an der Berliner Mauer, 244 an der innerdeutschen Grenze und acht in der Ostsee, die übrigen an der DDR-Grenze zum Ausland.
Mit der Abgrenzung der DDR durch den Mauerbau erreichte das SED-Regime in den folgenden Jahren, was ihm bis dahin nicht gelungen war: eine weitgehende Anpassung der Bevölkerung an den neuen Staat. Nach anfänglicher Verbitterung stellte sich ein allmählicher Prozess der Gewöhnung ein; in einer Art Resignation fand sich die Bevölkerung der DDR mangels Alternativen mit den Verhältnissen ab. Ein verstärkter Rückzug ins Private, in die „Nische“, war die Folge.
Verhandlungen des Berliner Senats mit dem Ministerrat der DDR ermöglichten 1963 einen „inneren Berlinverkehr“ (Passierscheinregelung). Innerhalb festgelegter Zeiträume durften West-Berliner ihre Verwandten in Ost-Berlin besuchen. Die DDR-Führung machte keinen Hehl daraus, dass die Passierscheinregelung in ihren Augen einer De-facto-Anerkennung der Drei-Staaten-Theorie (Bundesrepublik, DDR, Berlin-West) gleichkam. Differenzen über diese Auslegung führten schließlich dazu, dass die DDR-Behörden die Passierscheinregelungen nicht verlängerten.
2892449 -
Errichtung der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter
Am 24. November 1961 nahm die Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltung (ZESt) in Salzgitter ihre Arbeit auf. Angeregt hatte ihre Einrichtung Willi Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Am 24. November 1961 nahm die Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltung (ZESt) in Salzgitter ihre Arbeit auf. Angeregt hatte ihre Einrichtung Willi Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin.
Die ZESt sammelte und dokumentierte Hinweise und Beweise für Verbrechen in der DDR, z.B. versuchte und vollendete Tötungshandlungen an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze, politisch motivierte Urteile der DDR-Justiz, Misshandlungen im Strafvollzug, politische Verfolgung, usw.
Von 1961 bis zu ihrer Schließung 1992 registrierte die „Zentrale Erfassungsstelle“ mehr als 42.000 Gewaltakte. Deren Verfolgung übernahmen die Strafverfolgungsbehörden in den neuen Bundesländern. Die ZESt-Akten waren wichtige Dokumente z.B. bei den Mauerschützenprozessen.
2892457 -
Jugendgesetz der DDR
Bei der Errichtung ihrer Herrschaft setzte die SED große Hoffnungen auf die Jugend und baute daher bereits Ende der 1940er Jahre in der Sowjetischen Besatzungszone ein neues Bildungssystem auf. Einerseits wollten die neuen Machthaber einen radikalen Bruch mit dem Schulsystem unter der nationalsozialistischen Diktatur; sie entließen deshalb beispielsweise einen Großteil der Lehrer und verboten auch den Gebrauch der bisherigen Lehrmittel. Gleichzeitig vollzogen sie einen Bruch mit traditionellen pädagogischen Strukturen. Für den Unterricht wurden zunächst sog. „Neulehrer“ rekrutiert und im Schnellverfahren ausgebildet. Viele von ihnen waren noch bis in die 1980er Jahre im Schuldienst.
Das Bildungssystem wurde später zweimal grundlegend reformiert – zunächst Mitte der 1950er Jahre und schließlich 1965 durch das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“. Die Bedeutung von Bildung und Erziehung für die SED-Politik zeigte sich auch darin, dass mit Margot Honecker die Ehefrau des Partei- und Staatschefs von 1963 bis 1989 als Minister (sic) für Volksbildung wirkte. Es galten folgende grundsätzliche Positionen in der Bildungspolitik: Einheitlichkeit, Staatlichkeit bzw. Weltlichkeit, Unentgeltlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Parteilichkeit, Lebensverbundenheit.
Das gesamte Bildungswesen der DDR von der Kinderkrippe bis hin zur Hochschule war als einheitliches sozialistisches Bildungssystem definiert, und dieser Grundansatz wurde dann in konkreten Zielsetzungen ausformuliert. So sollten alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von Geschlecht, Abstammung und sozialer Herkunft gleiche Zugangschancen zu den Bildungsmöglichkeiten der DDR haben, was auch die Aufhebung des Bildungsgefälles zwischen Stadt und Land beinhaltete. Der Aufbau eines einheitlichen Systems gestufter Bildungseinrichtungen sollte die Einheitlichkeit des Bildungssystems in Bezug auf Aufbau, Inhalt und Ziele ermöglichen, wozu auch einheitliche Lehrpläne und Lehrbücher gehörten.
Alle Kinder sollten nach ein und demselben Bildungskonzept eine gleichwertige und damit auch im Wesentlichen gleichartige Allgemeinbildung hohen Niveaus erwerben, um eine allseits begabte sozialistische Persönlichkeit zu entwickeln. Der Unterricht erfolgte von der 1. bis zur 10 Klasse gemeinsam in einer „Polytechnischen Oberschule“ (POS); Schüler mit überdurchschnittlichen Leistungen besuchten in der 11. und 12. Klasse die „Erweiterte Oberschule“ (EOS) und legten dort das Abitur ab. Überdies war das Abitur auch mit Berufsausbildung möglich (nach 13 Schuljahren und mit paralleler betrieblicher Ausbildung). Allerdings war der Zugang zum Abitur durch politische Bedingungen reglementiert: Kindern aus oppositionellen bzw. christlichen Elternhäusern war der Zugang zum Abitur und somit zur Hochschule zumeist verwehrt.
Die Verfassung der DDR legte die allgemeine zehnjährige Oberschulpflicht fest und betonte die Monopolstellung des Staates im Bildungsbereich. Das bedeutete zum einen, dass konfessionelle oder private Bildungsträger faktisch keine Möglichkeit besaßen, eigene Schulen anzubieten, und zum anderen, dass ausschließlich dem Staat durch die Gestaltung verbindlicher Lehrpläne die inhaltliche Gestaltung der Bildungsinhalte und Bildungsformen vorbehalten blieb. Ab 1957 galt in der gesamten DDR die volle Schulgeldfreiheit an sämtlichen Schulen, auch an der Oberschule, ab 1965 zudem die Gebührenfreiheit des Studiums an Hoch- und Fachschulen.
Wehrkunde
Unter Wissenschaftlichkeit wurde in der DDR die Orientierung der Inhalte am dialektischen Materialismus verstanden. Die Schüler sollten im Sinne der Idee des Sozialismus und zur Affirmation der DDR erzogen werden („Partei ergreifen“), was auch die Wehrertüchtigung in den Schulen einschloss. Durch vielfältige Unterrichtsinhalte und Unterrichtsformen sollte der Unterricht sich mit dem Arbeitsleben in der DDR verbinden. So gab es ab der 7. Klasse einen „Unterrichtstag in der Sozialistischen Produktion“ (UTP) im Fach „produktive Arbeit“. Die Schule war zudem eng mit der Politik verflochten, etwa über die Pionierorganisation sowie die FDJ. Zudem gab es an jeder Schule und an jeder Hochschule Grundorganisationen der SED.
Bildung und Erziehung unterstanden dem Ministerium für Volksbildung. Eine Ausnahme bestand für die Kinderkrippen, die dem Gesundheitswesen angegliedert waren, auch wenn sie trotzdem gemeinsam mit den Kindergärten die erste Stufe des staatlichen Bildungssystems bildeten. Bereits in diesen Einrichtungen gab es strikte kollektive Abläufe. So heißt es beispielsweise in der Verordnung über die Einrichtungen der vorschulischen Erziehung und die Horte von 1952: „Das Ziel aller Erziehungseinrichtungen ist die Erziehung der Jugend zu aktiven Erbauern eines einheitlichen, friedliebenden, demokratischen Deutschlands, zu aufrechten Patrioten, die fähig und bereit sind, die demokratischen Errungenschaften zu verteidigen und den Sozialismus zu verwirklichen.“
2892474 -
Erster Häftlingsfreikauf
Die Rechtsauffassung in der DDR leitete sich aus dem Marxismus-Leninismus, und damit besonders aus dem dialektischen und historischen Materialismus bzw. seiner Auffassung vom Wesen des Rechts ab. Die Verfassung der DDR stellte klar, dass der sozialistische Staat instrumentalen Charakter in den Händen der Arbeiterklasse unter Führung der SED besaß. In konsequenter Weiterentwicklung des Gedankens, dass das Recht der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse sei, wurde das sozialistische Recht der DDR zum Ausdruck der Macht der herrschenden Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, die sie durch ihr Hauptinstrument, den Staat, verwirklichte. Das sozialistische Recht in der DDR stellte ein Instrument des sozialistischen Staates dar, mit dessen Hilfe die Gesellschaft durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei geführt wurde.
Die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches waren anfangs in der DDR übernommen worden. 1976 wurde es dann durch das Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik ersetzt. Eigentums-, Patent- und Erbrecht waren eng begrenzt, das Vertragsrecht war der Planwirtschaft verpflichtet.
Die erste Verfassung aus dem Jahre 1949 enthielt neben dem Grundsatz des föderaler Aufbaus des Staates noch bürgerlich-demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit der Gerichte und der Rechtspflege sowie Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder Auswanderungsfreiheit. Einzelne Elemente davon blieben zwar auch noch in der sozialistischen Verfassung der DDR von 1968 erhalten, galten in der Verfassungswirklichkeit aber nicht.Die für einen Rechtsstaat unabdingbare Unabhängigkeit der Gerichte war nicht gegeben. Das Rechtswesen der DDR entsprach damit nicht rechtsstaatlichen Standards. In der DDR waren Rechtsanwälte nicht unabhängig vom Staat. Sie hatten kein Recht auf Akteneinsicht und bekamen – wie die Richter – lediglich einen zusammenfassenden Bericht. Vor allem bei politischen Prozessen griff die SED-Führung außerdem oft direkt in Verfahren ein und legte Urteile fest bzw. korrigierte diese, dann meist im Sinne einer Strafverschärfung.
Politische Häftlinge gab es in der DDR-Terminologie nicht: Sie wurden kriminalisiert bzw. als „normale“ Straftäter angesehen. Bei Anklagen und Urteilen herrschte vielfach Willkür. Typische politische Delikte waren „Sabotage“, „staatsfeindliche Hetze“ oder „Rowdytum“. Nicht selten gab es bei den Verfahren gar keine Beweise, und die Urteile trafen solche, die mit den ihnen vorgeworfenen „Taten“ gar nichts zu tun hatten. Die Haftstrafen waren meist drakonisch und reichten von langen Gefängnisaufenthalten bis zu Lagerhaft in der Sowjetunion. Erst 1987 schaffte die DDR die Todesstrafe ab, 1981 wurde sie zuletzt vollstreckt (gegen den als Verräter deklarierten MfS-Hauptmann Werner Teske).
Art. 32 der Verfassung gewährleistete die Freizügigkeit, d. h. das Recht eines jeden Bürgers, innerhalb des Staatsgebiets der DDR und im Rahmen ihrer Gesetze seinen Wohnsitz oder zeitweiligen Aufenthalt frei zu wählen und sich innerhalb des Staatsgebiets aufzuhalten. Dessen ungeachtet war die DDR nach Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, den die DDR am 14. Januar 1974 ratifizierte und der am 23. März 1976 in Kraft trat, völkerrechtlich verpflichtet, ihren Bürgern die Ausreise zu gestatten. Dieser Verpflichtung kam die DDR mit folgender Begründung nicht nach: „Die Auswanderung ist ein typisches Produkt der Krisenwirtschaft kapitalistischer Staaten, in der DDR gibt es keine soziale Basis für ein Grundrecht auf Auswanderung. Die Entscheidung über Auswanderungsanträge liegt im freien Ermessen der Verwaltungsbehörden, die dabei die Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus zu berücksichtigen haben, sie stellen in Rechnung, dass die Auswanderung in einen imperialistischen Staat bedeutet, Menschen einem System auszuliefern, das sie ausbeutet und zwingt, einer aggressiven Politik zu dienen, die ihre Existenz gefährdet und sich gegen den Sozialismus richtet.“
2892483 -
Gesetz über das einheitliche Bildungssystem
Die bildungspolitischen Anstrengungen der SED waren von Anfang an darauf gerichtet, eine neue, parteiloyale Machtelite zu rekrutieren. So wurden bis Anfang der 1970er Jahre besonders häufig Arbeiter- und Bauernkinder sowie Kinder parteipolitisch konformer Eltern zur EOS (Erweiterte Oberschule: Abiturstufe) und später dann zur Hochschule zugelassen. Wer sich als Offiziersbewerber verpflichtete, erhielt auch bei nicht ausreichenden schulischen Leistungen einen Platz an der EOS. Voraussetzung für den Besuch der Abiturstufe war grundsätzlich eine positive Einstellung zum Arbeiter- und Bauernstaat, die durch Mitgliedschaft in der FDJ sowie durch Teilnahme an der Jugendweihe nachgewiesen werden musste. Besonders in den 1980er Jahren gab es dazu allerdings auch Ausnahmen. Bei Anzeichen renitenten Verhaltens oder gar Widerspruch war die Aufnahme in die EOS nahezu ausgeschlossen.
Ansonsten regierte in der Planwirtschaft der DDR der Numerus clausus. Bemerkenswert dabei ist, dass die Quote der Studierenden eines Geburtsjahrgangs seit den 1970er Jahren sank und 1989 gerade die Hälfte der entsprechenden Zahlen der Bundesrepublik erreichte. Die begrenzte Zahl der Abiturienten und Studenten richtete sich nach den Erfordernissen von Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und SED. Es stand fest, wie viele Hochschulabsolventen für welche Branche benötigt wurden. Dabei hatten sich in der Regel individuelle Berufswünsche wirtschaftlichen Erfordernissen unterzuordnen. Das hatte den Vorteil, dass jeder Abiturient auch studieren konnte und jeder Akademiker in der Regel auch eine feste Anstellung in seinem Beruf fand. Die Nachteile lagen darin, dass vielen jungen Menschen wegen ihrer bürgerlichen Herkunft, ihres christlichen Glaubens oder wegen der begrenzten Zahl der Studienplätze der Weg zu Universitäten und Hochschulen versperrt blieb. Da es keine Möglichkeit gab, das immer wieder proklamierte Recht auf Bildung einzuklagen oder mit anderen Rechtsmitteln durchzusetzen, wurde „Bildung“ als sehr wirksames Disziplinierungsinstrument im Arbeiter- und Bauernstaat missbraucht.
2892494 -
Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR
Die Verfassung der DDR von 1949 stellte fest: „Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit." Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR vom 20. Februar 1967 dagegen definiert und regelt die "Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik". Bereits seit 1964 stand allerdings in den Personalausweisen der Vermerk „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“. Damit betonte die DDR, dass es zwei deutsche Staaten gäbe und dass die Bundesrepublik Deutschland also „Ausland“ sei und West-Berlin einen Sonderstatus habe.
Die Bundesrepublik hielt dagegen an der Auffassung von EINEM deutschen Volk fest. DDR-Bürger/innen waren Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und hatten deshalb Anspruch auf einen bundesdeutschen Pass.
2892502 -
Unterzeichnung des Viermächteabkommens über Berlin
Die im Oktober 1969 neu gebildete Bundesregierung aus SPD und FDP konnte an die neu akzentuierte Ostpolitik der Regierung unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger anknüpfen. Am 28.10.1969 widmete Bundeskanzler Willy Brandt der Deutschlandpolitik in seiner Regierungserklärung einen breiten Raum. Er sprach von „zwei Staaten in Deutschland“, die allerdings „füreinander nicht Ausland“ seien, sondern Beziehungen von „besonderer Art“ entwickelten. Eine Konkretisierung der darin enthaltenen Vorstellungen erfolgte in den Verträgen von Moskau (12.8.1970), Warschau (7.12.1970) und Prag (21.12.1973).
In zeitlichem und sachlichem Zusammenhang damit stand das von den Siegermächten abgeschlossene Vier-Mächte-Abkommen über Berlin (3.9.1971). Die wichtigsten Bestimmungen betrafen die Zustimmung der Sowjetunion zu einem freien Transitverkehr von Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin. Die Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik wurden durch dieses Abkommen bestätigt. Die Verträge von Moskau und Warschau ratifizierte der Deutsche Bundestag am 17.5.1972, nachdem die CDU-Opposition eine gemeinsame Erklärung des Bundestags erzwungen hatte, in der nochmals darauf hingewiesen wurde, dass die Verträge „eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorwegnähmen“ und „keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen“ sein dürften. Mit einem „Brief zur Deutschen Einheit“ wurde diese Rechtsposition der Bundesrepublik nochmals bekräftigt.
Die Bundesregierung war sich bei ihrer Ostpolitik darüber im Klaren, dass eine „Normalisierung“ des Verhältnisses zur DDR ohne die Verträge mit der Sowjetunion und Polen keine Chance hatte. Im Dezember 1972 wurde der „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR“ (Grundlagenvertrag) unterzeichnet, der die Basis für die Einzelverträge mit der DDR in verschiedenen Bereichen und für den Ausbau der innerdeutschen Verbindungen auf privater Ebene bildete. Der Bundestag stimmte dem Grundlagenvertrag sowie dem „Gesetz zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen“ am 11.5.1973 zu. Ein Problem der Vertragspolitik mit der DDR war, dass beide Seiten von unterschiedlichen, z. T. gegensätzlichen Zielen ausgingen. Während die DDR-Führung die Beziehungen zu „normalisieren“ suchte, indem sie Beziehungen zur Bundesrepublik zu etablieren versuchte, wie sie auch sonst zwischen Staaten üblich sind, also den staats- und völkerrechtlichen Sondercharakter der innerdeutschen Beziehungen zu nivellieren bemüht war, strebte die Bundesregierung danach, vor allem eine Normalisierung für die Menschen zu erreichen – über die innerdeutsche Grenze hinweg. Praktisch bedeutete dies: möglichst viele Verbindungen und Kontakte.
Bei der Ratifizierung des Vertrages lief noch eine Normenkontrollklage der Bayerischen Staatsregierung, durch welche die Vereinbarkeit des Grundlagenvertrags mit dem Grundgesetz überprüft werden musste. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde am 31.7.1973 verkündet. Die Klage wurde zwar abgewiesen, in der Urteilsbegründung wurde aber gleichzeitig unmissverständlich definiert, unter welchen Bedingungen der Vertrag mit dem Grundgesetz im Einklang stand: Er durfte nicht als Teilungsvertrag interpretiert und die DDR nicht völkerrechtlich – also als Ausland – anerkannt werden. Dies bedeutete zugleich, dass die deutsche Nation weiterbestand. Gleichzeitig verpflichtete das Urteil alle Verfassungsorgane erneut auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Diese Vorstellungen wurden von der DDR zurückgewiesen. Die nationale Frage, so hieß es amtlich, sei „schon entschieden“. Die Aufnahme der DDR als 133., die der Bundesrepublik als 134. Mitglied in die Vereinten Nationen erfolgte am 18.9.1973.
Die Amtszeit der Regierung unter Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher war geprägt von dem Bemühen, die Verträge mit Leben zu füllen. Als hilfreich für die Politik der Bundesrepublik erwies sich die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in deren Schlussakte (1975) u. a. Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Zusammenarbeit der Staaten in humanitären Fragen kodifiziert wurden. Damit war für die Verhandlungen mit der DDR eine neue Berufungsgrundlage geschaffen. Die DDR ihrerseits bemühte sich, die Grundlagen im Sinne ihrer Abgrenzungspolitik „nachzubessern“, z. B. durch die vier Geraer Forderungen Erich Honeckers (Anerkennung einer „DDR-eigenen“ Staatsbürgerschaft, Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Regelung des Grenzverlaufs entlang der Elbe „entsprechend dem internationalen Recht“). Die Verschärfung des Ost-West-Konflikts (sowjetische Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen, westliche Nachrüstung, Krise in Polen, sowjetischer Einmarsch in Afghanistan) seit Ende der 70er Jahre beeinflusste auch die innerdeutschen Beziehungen. Das Ende der Regierung Schmidt/Genscher stand im Zeichen einer Abkühlung der Beziehungen zu den westlichen Verbündeten und einer gleichzeitigen Stagnation in der Ostpolitik.
2892518 -
Unterzeichnung des Verkehrsvertrages
Am 26. Mai wird der Verkehrsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unterzeichnet. Er ist der erste völkerrechtlich bindende Vertrag, der direkt zwischen beiden deutschen Staaten geschlossen wird Er regelt er alle praktischen Fragen zum Transit- und sonstigen Grenzverkehr auf Straßen, Schienen und Wasserwegen zwischen beiden deutschen Staaten. Zudem ermöglicht er Reiseerleichterungen für Bundesbürger in die DDR und für DDR-Bürger, die künftig in „dringenden Familienangelegenheiten“ in die Bundesrepublik reisen dürfen. Bisher war dies nur Rentnerinnen und Rentnern erlaubt. Gleichzeitig beginnt die DDR allerdings mit dem Anbringen von Selbstschussanlagen entlang der innerdeutschen Grenze, die Fluchtwillige verletzen oder töten sollen.
Quelle: Bundesgesetzblatt
2892526 -
DDR und Bundesrepublik Deutschland werden Mitglieder der UNO
Am 18. September 1973 werden sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Deutsche Demokratisch Republik in die Organisation der Vereinten Nationen aufgenommen. In den 17 Jahren bis zur Wiedervereinigung Deutschlands kommt es aber nur zu einer gemeinsamen Kooperation: der Einrichtung eines deutschen Übersetzungsdienstes. Denn auch nach der zeitgleichen Aufnahme betont die Bundesrepublik, dass sie die Teilung Deutschlands nicht anerkennen werde.
Heute, fast 20 Jahre nach Wiedervereinigung, ist die Arbeit in der UN Kernstück der deutschen Außenpolitik. So engagiert sich die Bundesrepublik wiederholt als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat. Umgekehrt sind die Vereinten Nationen auch in Deutschland stark vertreten: Zum Beispiel durch den UN-Campus in Bonn, den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg und Büros des Hohen Flüchtlingskommissars in Berlin.
Quelle:
Sibum, Helen: „Deutschland in den Vereinten Nationen“, in: deutschland.de
URL: https://www.deutschland.de/de/topic/politik/globale-fragen-recht/deutschland-in-den-vereinten-nationen2892542 -
Gründung der CDU in Berlin
Überlebende des Widerstandes, der christlichen Gewerkschaften, aus dem Liberalismus, dem Zentrum und der Bekennenden Kirche berieten nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1945 im zerstörten Berlin die Gründung einer überkonfessionellen Partei. Führend war neben dem vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten ehemaligen Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Andreas Hermes, auch der zum Umfeld des 20. Juli gehörende Gewerkschafter Jakob Kaiser. Die Beratungen in Berlin – einem der „Gründungskerne“ der Union (Hans-Otto Kleinmann) – waren nicht im regionalen oder zonalen Rahmen gedacht, sondern als Keimzelle einer zukünftigen reichsweiten Partei. Die Möglichkeit zur politischen Arbeit bot sich überraschend schnell, da die sowjetische Besatzungsmacht schon am 10. Juni 1945 die Gründung „antifaschistischer“ Parteien erlaubte. Zumindest die KPD rechnete allerdings mit einer Wiedergründung des Zentrums, wie ihr Aufruf vom 11. Juni 1945 zeigte.
Die konfessionellen und sozialstrukturellen Voraussetzungen für die Gründung einer christlichen Partei in der Sowjetischen Besatzungszone waren schwierig: Mitte 1945 hielten sich schätzungsweise vier Millionen Vertriebene, Flüchtlinge und Bombenevakuierte auf dem Gebiet der SBZ auf, die meisten davon waren auf dem Weg in die Westzonen. Konfessionell war das Gebiet der späteren SBZ 1939 noch zu etwa 90% protestantisch geprägt, einen nennenswerten Anstieg der Katholiken gab es durch die kriegsbedingten Wanderungsbewegungen auf 12,2% der Bevölkerung im Jahr 1946. Dies war insofern bedeutsam, als in der ersten Phase der Unionsgründung die Initiative vielerorts von ehemaligen Zentrumsmitgliedern ausging.
Die CDUD als demokratischer Gegenspieler von SED und SMAD 1945-1947
Erster Vorsitzender der CDUD in der SBZ wurde deshalb das frühere Zentrumsmitglied Andreas Hermes, sein Stellvertreter der Protestant Walther Schreiber. Hermes geriet schon bald mit der Besatzungsmacht über die im Sommer 1945 dekretierte entschädigungslose Enteignung von Großgrundbesitz in Konflikt. Sein Widerstand gegen die sowjetischen Vorgaben und auch gegen die Abtrennung der ehemaligen deutschen Ostgebiete führten zu seiner Ablösung als CDUD-Vorsitzender im Dezember 1945.
Der Nachfolger Jakob Kaiser akzentuierte die Programmatik der Union in der SBZ in Richtung des "Sozialismus aus christlicher Verantwortung". Die inhaltlich nicht völlig klar definierte Bezeichnung umschrieb eine Orientierung an der katholischen Soziallehre. Der „christliche Sozialismus“ erwies sich als wirksame Waffe in der Auseinandersetzung mit der Anfang 1946 gegründeten SED und der sowjetischen Besatzungsmacht, die sich ideologisch auf eine Partei einstellen mussten, die den Sozialismus-Begriff ebenfalls für sich reklamierte. Außerdem betonte Kaiser die Vermittlungsfunktion der CDUD zwischen Ost und West: „Wir haben Brücke zu sein“.
Bei den noch halbwegs freien Gemeinde-, Kreis- und Landtagswahlen im Herbst 1946 konnte die Union in der SBZ zwischen 10% und 25% der Stimmen auf sich vereinen. Dies war weniger, als sie selbst erwartet hatte, aber respektabel angesichts der andauernden Behinderung durch die sowjetischen Militärmacht. Die CDUD vermutete in einer internen Wahlanalyse, dass etlichen Wählern aus dem bürgerlichen Lager der "christliche Sozialismus" suspekt gewesen sei.
Der Wahlerfolg und seine unumstrittene Führungsrolle in der ostzonalen Union gaben Kaiser den nötigen Rückhalt, um 1946/47 in vielen Punkten der SED-Politik die Zustimmung zu verweigern. Sein gesamtdeutscher Führungsanspruch ebenso wie die Vorstellungen des "christlichen Sozialismus" fanden allerdings in den westdeutschen CDU-Gliederungen keine Mehrheit. Als Kaiser im Spätherbst 1947 die Mitarbeit beim "Deutschen Volkskongreß", einem von der SED initiierten Delegiertenparlament, verweigerte, wurde er von der SMAD abgesetzt. Da er um seine persönliche Sicherheit fürchten musste, wich er in die Westsektoren Berlins aus. In den folgenden Monaten kam es zu einer tiefgreifenden politischen Säuberung in der ostdeutschen CDU, die über Mandatsentzug bis zur Verhaftung und Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal reichen konnte. Von den 35 Unterzeichnern des Berliner Gründungsaufrufs befanden sich 1950 nur noch zwei in der DDR.
Illusionen in der Parteiführung: Nuschke und Dertinger
Machtpolitisch geriet die CDUD ins Hintertreffen, als SED und SMAD die Gründung der „Demokratischen Bauernpartei Deutschlands“ (DBD) 1948 durchsetzten. Ziel der Kommunisten war es, durch die Etablierung dieser Klientelpartei den Rückhalt der Union in den ländlichen Gebieten zu schwächen. Wenn auch innerhalb der DBD bei einzelnen Mitgliedern auf unterer Ebene durchaus eigene politische Initiativen nachweisbar sind, so blieb sie doch in erster Linie der verlängerte Arm der SED.
Neuer Parteivorsitzender wurde nach Kaisers Absetzung das ehemalige Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei, Otto Nuschke. Nuschke, nach der Gründung der DDR 1949 Stellvertretender Ministerpräsident, konzentrierte sich auf die Kirchenpolitik und versuchte dort im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Kirchen und in Einzelfällen bei Verhaftungen helfend tätig zu werden. Die Partei wurde in dieser Phase maßgeblich von Georg Dertinger gelenkt. Dertinger, der erste Außenminister der DDR, hegte aufgrund seiner guten Kontakte zur sowjetischen Besatzungsmacht Illusionen über seinen politischen Spielraum. Er versuchte, über eine forcierte Wiedervereinigungspolitik der Eingliederung der DDR in den sowjetischen Machtbereich entgegenzuwirken. Schon im Vorfeld der DDR-Gründung hatte er sich bemüht, Kontakte zwischen dem Parlamentarischen Rat und dem „Volkskongreß“ anzubahnen. Die Ablehnung der Stalin-Note im März 1952 bedeutete das Scheitern dieses Konzepts. Obwohl er noch auf dem 6. Parteitag der CDUD im Oktober 1952 die „führende Rolle“ der SED anerkannte, wurde er im Januar 1953 verhaftet und später zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Dertinger und Nuschke sind demnach wohl weniger einseitig negativ zu bewerten, als dies die zeitgenössische bundesdeutsche Publizistik tat. Dennoch trugen beide eine maßgebliche Verantwortung für die Gleichschaltung der CDUD.
Die CDUD unter Gerald Götting
Nach dem Sturz Dertingers wurde Gerald Götting die eigentlich beherrschende Figur der Partei. Götting, der als rücksichtsloser Opportunist beschrieben wird, ordnete als Generalsekretär (1949-66) und Parteivorsitzender (1966-89) die Partei völlig der Linie der SED unter. Der Rückzug eines Großteils der Parteimitglieder der ersten Stunde - bereits 1950 hatte die CDUD etwa 25% ihrer ursprünglichen Mitglieder verloren - wurde teilweise durch die Bestellung von hauptamtlichen Parteifunktionären ausgeglichen, die natürlich ganz anders an die Vorgaben der Parteiführung gebunden waren. Der Anspruch auf wesentliche Mitgestaltung in der Politik wurde aufgegeben, man sah sich selbst als Transmissionsriemen der Staatspartei. Ein ausuferndes Berichts- und Kontrollwesen sowie ausgedehnte, in der Mitgliedschaft unbeliebte Parteischulungen sollten die Durchsetzung der Parteilinie sicherstellen. Die Folgen der Gleichschaltung der Partei zeigten sich auch in der Entwicklung der Mitgliedschaft: Sie sank von 218.000 Parteimitgliedern 1948 auf nur noch 135.000 im Jahre 1989.
Neuere Forschungen belegen, dass die CDUD in der DDR seit Anfang der 1950er Jahre zunehmend zum Ausspähungsobjekt für das MfS wurde. Dabei ergänzte die Informationsbeschaffung mit geheimdienstlichen Mitteln die offene Kontrolle durch die SED, die auf allen Ebenen jeweils Informationsberichte der entsprechenden CDU-Mitarbeiter erhielt. Auch relativ unwesentliche Personalentscheidungen wie etwa die Einstellung von Kreissekretären unterlagen damit der Zustimmung der Kommunisten.
In West-Berlin und der Bundesrepublik sammelte die Exil-CDU, die aus Jakob Kaisers Berliner Büro hervorgegangen war, Informationen über oppositionelle Aktivitäten in der CDUD. Relativ schnell stieß diese Tätigkeit jedoch angesichts der deutlich zunehmenden Repression des MfS an ihre Grenzen.
Politische Eigenständigkeit zeigte die CDUD unter der Ägide Götting nicht; auch die Verweigerung der Zustimmung von 14 der 22 Abgeordneten der Volkskammerfraktion der Partei zum Abtreibungsgesetz 1972 bedeutete keinen politischen Widerstand, sondern war angesichts der Stimmenverhältnisse bedeutungslos. Unterhalb der Funktionärsebene hat der "Eigensinn" (Manfred Agethen) vieler Mitglieder jedoch in den Augen von Parteiführung und SED ein Problem dargestellt, wie die dichte Überwachung nahelegt.
Die der CDUD im politischen System der DDR zugedachte Rolle, das Verhältnis zu den Kirchen zu stabilisieren und Christen in den Sozialismus einzubinden, erfüllte die Partei seit den 1950er Jahren immer weniger. In der katholischen Kirche in der SBZ/DDR gab es seit dem Sturz Kaisers eine vom Berliner Kardinal Konrad von Preysing vorgegebene klare Abgrenzung gegenüber der Partei, die die jeweiligen Bischöfe und Jurisdiktionsträger auch gegenüber den einzelnen Geistlichen durchsetzten. Ausnahmen davon gab es im thüringischen Eichsfeld und im Gebiet der katholischen Sorben; freilich war hier das Eigenleben der Union bis in die 1980er Jahre hinein auch vergleichsweise groß. In den evangelischen Landeskirchen stellte sich die Situation uneinheitlicher dar: Mit der SED kollaborierende Bischöfe wie Moritz Mitzenheim in Thüringen standen der Ost-CDU näher als etwa der strikt antikommunistische Berliner Bischof und langjährige EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius. Einzelne evangelische Geistliche ließen sich aus den unterschiedlichsten Motiven auf eine Zusammenarbeit mit der CDUD ein. Allerdings verringerte sich die Bereitschaft zur Kooperation drastisch, je deutlicher seit der Einführung der Jugendweihe 1954 wurde, dass die SED die Kirchen aus der Gesellschaft verdrängen wollte.
Die Wende: Selbstreinigung, Zusammenschluss mit der westdeutschen CDU und Neubegründung der ostdeutschen Landesverbände
In den 1980er Jahren gab es wenig politische Veränderung innerhalb der CDUD; auch die Union war von der Lähmung der späten Honecker-Jahre nicht unberührt. Lediglich in der Kultur- und Umweltpolitik versuchte die Partei eigene Felder zu besetzen, freilich immer in SED-konformen Bahnen.
In der friedlichen Revolution 1989 zeigte sich dann jedoch sehr schnell, dass die CDUD trotz des gleichgeschalteten Parteiapparates und der SED-hörigen Führung unter Gerald Götting durchaus Mitglieder mit demokratischen Vorstellungen besaß, die einen Neuanfang wagten. Im "Brief aus Weimar" vom 10. September wurde sehr früh ein personeller und programmatischer Neuanfang gefordert und mit dem erzwungenen Rücktritt Göttings am 2. November 1989 auch eingeleitet. Unter Lothar de Maizière begann die Selbstreinigung der Partei.
Unterstützt wurde dieser Prozess durch die westdeutsche Union. Dort war eine Zusammenarbeit mit der CDUD lange umstritten, bis deutlich wurde, dass es sich wirklich um einen Neuanfang handelte. Die CDU-Führung unter Helmut Kohl traf die strategische Entscheidung, für die Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 einerseits klar auf einen politischen Wandel zu setzen. Andererseits versuchte man aber auch die logistischen Möglichkeiten der CDUD zu nutzen, in dem auf Kohls Anregung CDUD, Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU) in der "Allianz für Deutschland" kooperierten. Nach der gewonnenen Wahl ließen sich durch den Zusammenschluss mit dem DA die reformorientierten Kräfte in der CDUD stärken. Den Rahmen für den Neuaufbau bildeten die Landesverbände in den neuen Bundesländern, deren Gründung im Herbst 1990 vorbereitet wurde. Im September 1990 trat dann noch die DBD der CDU bei. Seit dem Zusammenschluss von ost- und westdeutscher CDU auf dem 38. Bundesparteitag am 1.-2. Oktober 1990 in Hamburg hat ein deutlicher Wandel in der Mitgliederstruktur eingesetzt: 82% der Mitglieder der ostdeutschen Landesverbände sind erst nach der Wende in die CDU eingetreten (Stand September 2008).
Fazit
Unter Jakob Kaiser war die CDU in der SBZ die wohl aktivste Vertreterin eines demokratisch motivierten Widerstands gegen die Stalinisierung. Unter Nuschke und Dertinger begannen die parteiinternen Säuberungen. Der Gleichschaltungsdruck führte zugleich zu sukzessivem Mitgliederschwund. Unter Gerald Götting verfestigte sich bei der CDUD die Rolle einer Erfüllungsgehilfin der SED. Die Umstellung der politischen Arbeit auf hauptamtliche Kräfte sorgte für eine mehr oder weniger reibungslose Umsetzung der Direktiven der Parteiführung, und die Durchsetzung mit Spitzeln des MfS machte politische Unmutsäußerungen auch unter „Unionsfreunden“ gefährlich. Im politischen System der DDR der 1960er und 1970er Jahre schloss die Mitgliedschaft in der CDUD Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft weitgehend aus, bot aber auch als Nachweis der Staatsloyalität Schutz vor weitergehenden Pressionen. In diesem Sinne sicherte die CDUD auch Nischen, in denen die christdemokratische Weltanschauung überdauern konnte. Als Ganzes jedoch war die CDUD Teil des von der SED beherrschten Regimes. Trotzdem hatten sich die Mitglieder der CDUD, wie die Selbstreinigung 1989/90 zeigt, genügend demokratisches Potential bewahrt, um den Erneuerungsprozess der Partei einzuleiten. Durch diese Erneuerung, den Zusammenschluss mit dem DA und den Beitritt neuer Mitgliedergruppen setzte seit 1990 ein weitgehender Mitgliederwandel in den neubegründeten ostdeutschen Landesverbänden ein.
2892550 -
KSZE-Gipfelkonferenz in Helsinki
Bereits 1967 schlägt der Warschauer Pakt eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vor. Diese soll zur Auflösung der bestehenden Allianzen beitragen und die USA aus Europa hinausdrängen. Schließlich wird die KSZE am 3. Juli 1973 in Helsinki eröffnet. An der Konferenz nehmen die sieben Staaten des Warschauer Paktes, 13 neutrale Länder und die 15 NATO-Staaten einschließlich der USA und Kanadas teil.
Nach zweijährigen Verhandlungen wird die KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki unterschrieben. Die Staaten verpflichten sich in dieser Absichtserklärung unter anderem zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur friedlichen Regelung von Streitfällen, zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sowie zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR nehmen gleichberechtigt an der KSZE teil. Für das SED-Regime ist dies ein wichtiger Schritt zur internationalen Anerkennung. , Der DDR geht es vor allem um die Anerkennung des Status quo in Europa und um die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Die Menschenrechte beachtet sie jedoch auch nach Unterzeichnung der Schlussakte nicht. Deshalb spricht sich die CDU/CSU-Opposition im Bundestag gegen die KSZE aus.
Quelle:
Grau, Andreas: KSZE, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
2892567 -
Ausbürgerung Wolf Biermanns
Spätestens seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gab es in der DDR politische Widerstandshandlungen, die vor allem von kritischen marxistischen Intellektuellen, einzelnen Künstlern und nicht angepassten Christen ausgingen und die alle auf eine Schwächung und Beseitigung des Machtmonopols der SED abzielten. Bestimmend unter den marxistischen Neuentwürfen der Gesellschaft waren die Anschauungen von Robert Havemann, Rudolf Bahro und Wolf Biermann. Die einflussreichste Symbolfigur war der Chemiker Havemann, zu Beginn der 50er Jahre Prorektor für Studienangelegenheiten an der Berliner Humboldt-Universität, der schon 1956 für Reformen eintrat. Sein Versuch, den administrativen Einfluss der Partei auf die Bereiche von Wirtschaft und Wissenschaft zurückzudrängen und die Entstalinisierung voranzutreiben, führte nicht zum Erfolg. Vielmehr wurde er auf der 3. Hochschulkonferenz im Februar 1958 zu zermürbender Selbstkritik gezwungen. Trotzdem behielt er seine umfangreichen Funktionen und wurde 1959 sogar noch mit dem DDR-Nationalpreis ausgezeichnet. Nachdem er von Oktober 1963 bis Januar 1964 an der Humboldt-Universität eine systemkritische Vorlesungsreihe zum Thema „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ gehalten hatte, zu der über 1.000 Zuhörer aus der ganzen DDR erschienen, wurde er am 12. März 1964 aus der SED ausgeschlossen und verlor im gleichen Jahr seine Professur, sein Volkskammermandat und seine anderen Funktionen. Im Dezember 1965 traf ihn auf dem 11. Plenum des ZK der SED das Verdammungsurteil Erich Honeckers. Das hatte seine zunehmende Isolation zur Folge: zunächst im März 1966 den Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften und dann zwischen 1976 und 1979 einen Hausarrest in Grünheide bei Berlin.
Ausgehend von den Ereignissen des Prager Frühlings entwickelte er seine theoretischen Überlegungen und hielt dabei an der Auffassung von der prinzipiellen Überlegenheit eines „demokratischen Sozialismus“ fest sowie an der Annahme, dass der Kapitalismus sich in seiner „Endphase“ befinde. Dieser Grundauffassung blieb er bis zu seinem Tode 1982 verpflichtet, wenngleich die Utopie des Sozialismus in seinen letzten Lebensjahren hinter das Ziel einer gesamtdeutschen Friedensordnung zurücktrat.
Der neben Havemann heute wohl bekannteste Dissident war der Liedermacher Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR gekommen war und in Berlin Philosophie studiert hatte. Schon nach seinen Auftritten Ende der 50er Jahre war er ins Visier der Kritik geraten, weil er auf der Suche nach einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz die alltägliche Realität mit den kommunistischen Utopien verglich. 1963 wurde er deshalb aus der SED ausgeschlossen, und auf dem berüchtigten „Kahlschlagplenum“ 1965 traf ihn ein totales Auftritts- und Publikationsverbot. Trotz der Isolation blieben seine Ideen unter den marxistischen Entwürfen oppositioneller Politik dominierend. Sie forderten fortan vor allem die „Vollendung der sozialistischen Demokratie“ und die Gewährung „politischer Menschenrechte“. Seine DDR-weite Bekanntheit und politische Bedeutung nahm mit seiner Ausbürgerung im November 1976 noch zu, und durch den unerwarteten Protest von Künstlern, Kulturschaffenden und Studenten kam es zu einer ernsthaften kulturpolitischen Krise. Als er den mit ihm befreundeten und bereits todkranken Havemann im Jahre 1982 in seinem Haus in Grünheide unter strikten Auflagen noch einmal besuchen durfte, entstand eine letzte Videobotschaft, die, von den Westmedien ausgestrahlt, ein Hoffnungsschimmer für alle Oppositionellen wurde.
Aus marxistischer Tradition stammte auch Rudolf Bahro, für den die Ereignisse des Jahres 1968 in Prag ebenfalls zum Schlüsselerlebnis seiner geistigen Emanzipation wurden. In dem 1977 im Westen erschienenen Buch „Die Alternative: Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ gab er seine Antwort auf den Einmarsch sowjetischer Truppen in die ČSSR. Mittels einer Analyse des politbürokratischen DDR-Sozialismus entwickelte er seine Theorie eines zivilisationskritischen Kommunismus. Die Hoffnung, dadurch den vermuteten kritischen Potenzialen in der DDR die für eine Überwindung des Systems notwendige politische Theorie zu liefern, zerschlug sich jedoch schon bald. Im August 1977 wurde er verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits im Oktober 1979 in den Westen ausgewiesen. Von dort aus konnte er kaum noch direkt auf die Entwicklung in der DDR und auf die sich dort formierenden Oppositionsgruppen Einfluss nehmen. Seine Ideen wurden im Wesentlichen von kritischen Studenten rezipiert.
2892577 -
Aufdeckung der gefälschten Kommunalwahl 1989
Die Fälschungen bei der Kommunalwahl in der DDR leiten die Phase der offenen Proteste gegen das SED-Regime ein, die im Herbst 1989 in der Friedlichen Revolution münden. Als die DDR-Bürger 1989 von ihrem Recht Gebrauch machen, die Auszählung der Stimmzettel zu beobachten, wird klar: Die Wahlergebnisse wurden manipuliert.
Die Bürger in der DDR konnten ihre politische Führung nicht wirklich wählen. Auch diesmal können sie der Einheitsliste der "Nationalen Front" nur zustimmen oder sie ablehnen. Dieses Mal nutzen deutlich mehr Menschen die Wahlkabinen und geben Nein-Stimmen ab.
Bei der öffentlichen Auszählung sind viele Vertreter oppositioneller Gruppen vor Ort und notieren die Ergebnisse. Diese weichen teilweise erheblich ab von den Zahlen, die die Staatsführung tags darauf veröffentlicht. Schnell macht die Nachricht die Runde, die Wahl sei durch die Regierung manipuliert.
Vertreter oppositioneller Gruppen fordern Erklärungen, in der Bevölkerung regt sich Unmut. Viele Bürger treffen sich danach am 7. jedes Monats zu Protestkundgebungen.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gefaelschte-kommunalwahl-in-der-ddr-353694
2892585 -
Einführung des Wehrkundeunterrichts in der DDR
Die DDR propagierte sich als „Friedensstaat“; der Alltag eines jeden Bürgers war allerdings vom Militarismus geprägt. Bereits in Kinderliedern wurde die Volksarmee glorifiziert. In den Kindergärten gab es Kriegsspielzeug, und bereits in der Grundschule begann die Uniformierung der Gesellschaft: Mit der Aufnahme in die Pionierorganisation musste jedes Kind zu bestimmten Anlässen ein weißes Hemd mit blauem (später rotem) Halstuch tragen. Ab dem 14. Lebensjahr und mit der Aufnahme in die FDJ war die „Uniform“ dann ein blaues Hemd. Mit dem Halstuch sowie später mit dem Blauhemd nahmen die Kinder und Jugendlichen an den Fahnenappellen in den Schulen teil, etwa zum „Republikgeburtstag“ oder bei Auszeichnungen.
Wehrkundeunterricht
Ab 1978 mussten alle Mädchen und Jungen der 9. und 10. Klasse am Wehrunterricht teilnehmen; eine Freistellung war nicht möglich. FDJ-Mitglieder (i. d. R. waren dies alle Schüler) mussten in Blauhemden erscheinen. Im theoretischen Teil, dem sog. Wehrkundeunterricht, wurden militärisches und politisches Grundlagenwissen über die NVA sowie die „sozialistische Landesverteidigung“ vermittelt und zum „Freund-Feind-Denken“ erzogen. Ein wichtiger Teil des praktischen Wehrunterrichts war in der 9. Klasse ein offiziell „freiwilliges Wehrlager“ für die Jungen. Vorläufer dazu waren Geländespiele im Grundschulalter sowie sportliche Wettkämpfe mit militärischen Inhalten (z. B. Geländemärsche). Über spielerische Elemente wurden die Kinder dabei an spätere militärische Aufgaben herangeführt. Daneben gab es Arbeitsgemeinschaften militärischen Inhalts (z. B. AG „Junge Funker“). Überdies waren die Lehrer angehalten, in ihren Schulen für eine Karriere als Berufsoffizier der NVA zu werben.
Die gesetzlichen Regelungen für die Zivilverteidigung (ZV) in der DDR stammten aus den Jahren 1967 bis 1970. Sie war anfangs dem Vorsitzenden des Ministerrats unterstellt und seit 1978 dann dem Ministerium für Nationale Verteidigung. In die ZV wurde auch der Katastrophenschutz integriert, ebenso die Sanitätseinrichtungen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Bereits in der Polytechnischen Oberschule war ein Lehrgang für Zivilverteidigung für alle Mädchen sowie für diejenigen Jungen, die nicht in das Wehrlager fuhren, Bestandteil des Wehrunterrichts. Entsprechende Übungen gehörten auch zur vormilitärischen Ausbildung in der Erweiterten Oberschule, in der Berufsausbildung und im Studium sowie zum Alltag in den Betrieben.
Gesellschaft für Sport und Technik
Die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) als paramilitärische Jugendorganisation in der DDR sollte vor allem der gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung technisch und sportlich interessierter Jugendlicher dienen, die dazu erforderlichen technischen Mittel (wie Motorräder, Flugzeuge, Funkgeräte) zur Verfügung stellen sowie technische Sportarten (wie etwa Motor- und Schießsportarten) pflegen und Wettkämpfe veranstalten. Gleichzeitig war sie jedoch gemeinsam mit der Nationalen Volksarmee für die gesetzlich vorgeschriebene vormilitärische Ausbildung (VA) an Schulen und Universitäten sowie in den Betrieben verantwortlich. Die GST wurde am 7. August 1952 gegründet und im Frühjahr 1990 aufgelöst. Sie gab monatlich die Zeitschrift Sport und Technik heraus. Die GST war der Dachverband folgender Sport-Organisationen: Deutscher Schützenverband, Flug- und Fallschirmsportverband, Militärischer Mehrkampfverband, Radiosportverband, Seesportverband und Tauchsportverband.
Kampfgruppen
Als besondere militärische Organisationen entstanden in den 1950er Jahren die Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Hauptsächlich aus männlichen SED-Mitgliedern bestehend, gab es sie in den Betrieben, staatlichen Einrichtungen, LPGs sowie den Hoch- und Fachschulen. Ihre Mitglieder nahmen in ihrer Freizeit mehrmals im Jahr, zumeist an Freitagen oder Wochenenden, in Uniform an militärischen Übungen oder Schulungen teil, die durch Offiziere der Volkspolizei angeleitet wurden. Die Kampfgruppen trugen massiv zur Militarisierung der DDR-Gesellschaft bei. Im Verteidigungsfall waren die Bezirkskampfkräfte zur Eingliederung in die NVA-Verbände vorgesehen. Die Bewaffnung der Angehörigen der Kampfgruppen bestand aus Pistolen, Gewehren des Fabrikats AK-47, Maschinenpistolen, MGs, Granatwerfern, leichten Panzerabwehr- und Flakgeschützen sowie leichten Schützenpanzern. Der historisch wichtigste Einsatz der Kampfgruppen war die Absicherung des Baus der Berliner Mauer 1961. Des Weiteren wurden sie zum Beispiel zur Unterstützung der Volkspolizei mobilisiert, wenn Sowjetsoldaten mit Munition fahnenflüchtig waren. Präsenz zeigten die Kampfgruppen insbesondere bei den jährlichen Paraden zum 1. Mai.
2892594 -
Das Paneuropäische Picknick in Sopron
In Sopron, an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich wurde am 19. August 1989 europäische und deutsche Geschichte geschrieben. An diesem Tag überschritten mehr als 600 Menschen aus der DDR im Rahmen eines Paneuropäischen Picknicks erstmals friedlich den Eisernen Vorhang. Die Nachrichten über dieses Ereignis verstärkten den anwachsenden Massenexodus von Deutschen aus der DDR, und dies führte zu einer erheblichen weiteren Destabilisierung des SED-Regimes. Das Paneuropäische Picknick war insofern ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit. Im Grunde genommen beruhte die nachhaltige und erfolgreiche Wirkung des Picknicks aber auf einer glücklichen Verkettung von Ereignissen und dem zufälligen Zusammentreffen von unterschiedlichsten Akteuren und Interessen.
Abbau des Eisernen Vorhangs
Die Einführung des sogenannten Weltpasses für ungarische Staatsangehörige Anfang 1988 setzte einen regen Reiseverkehr in Gang, da die Ungarn nunmehr in jedes Land der Welt reisen konnten. Die Zahl illegaler Grenzübertritte durch ungarische Bürger nahm rapide ab, bereits 1988 wurden 98 Prozent dieser Vergehen von Angehörigen anderer Ostblockländer begangen. Der Eiserne Vorhang hinderte also nicht mehr die Ungarn, gen Westen zu gehen, sondern vor allem Ostdeutsche.
Darüber hinaus war der Beitritt Ungarns zur Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen mit Wirkung vom 12. Juni 1989 ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Abbau des Eisernen Vorhangs. Die ungarische Regierung wollte auf diese Weise geflüchtete Landsleute vor einer Abschiebung in das diktatorische Rumänien Ceauşescus bewahren. An mögliche in Ungarn ausharrende ausreisewillige Ostdeutsche hatte man beim Beitrittsgesuch im März 1989 keineswegs gedacht. Dieser Rechtsakt eröffnete aber später auch die Anwendbarkeit auf DDR-Staatsangehörige „im Geiste der Konvention“. Der Abbau der Grenzbefestigungsanlagen erfolgte ab dem 2. Mai 1989, da die ungarische Regierung nicht bereit war, erhebliche Summen in die Sanierung von Grenzanlagen zu investieren, die das Land nicht mehr brauchte und wollte. Diese Initiative war auch der Versuch, einen engeren Austausch mit dem Westen zu wagen, vor allem mit dem Nachbarland Österreich.
Idee und Organisation
Die Idee des Paneuropäischen Picknicks wurde am 20. Juni 1989 in Debrecen geboren, der Stadt, in der während der Ungarischen Revolution am 14. April 1849 symbolträchtig die Entthronung des Hauses Habsburg verkündet worden war. Otto von Habsburg war von dortigen Oppositionellen eingeladen worden, um einen Vortrag über Europa nach den Europawahlen 1989 zu halten. Habsburg[c1] [O2] engagierte sich während seiner Zeit als Mitglied des Europäischen Parlaments in Straßburg immer wieder nicht nur im Sinne der bayerischen CSU, sondern auch für die Interessen der unterdrückten, sich in einem freien Europa nicht artikulationsfähigen Völker Mittel- und Osteuropas, besonders der Ungarn. Nach dem Vortrag saßen die Organisatoren mit Habsburg zusammen, und es entwickelte sich unter Federführung von Ferenc Mészáros spontan die Idee, dass eines Tages in einem zusammenwachsenden Europa an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich Menschen aus beiden Nationen Speck braten und ein „Paneuropäisches Picknick“ mit Musik und Tanz veranstalten könnten.
In der Folge trieb Mária Filep vom örtlichen Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) dieses Vorhaben energisch voran. Der Titel „Paneuropäisches Picknick“ wurde nach Aussagen der Organisatoren ohne Bezug zu der Organisation Paneuropa-Union gewählt, da diese in Ungarn gar nicht bekannt gewesen sei. Über die Bezeichnung kam es später zu einem Konflikt mit der Paneuropa-Union, da diese beanspruchte, Veranstalterin des Picknicks gewesen zu sein. Mária Filep jedoch hatte zu jener Zeit alle Hände voll zu tun: Sie musste einen Ort finden, die Genehmigung für den provisorischen Grenzübergang einholen, Menschen einladen, Mitstreiter finden und natürlich Finanzmittel auftreiben. Es war ein glücklicher Zufall, dass sie Mitte August Oppositionelle aus den mittelosteuropäischen Ländern in Ungarn bei einer informellen Sommerschule, dem sogenannten Schicksalsgemeinschaftslager in Martonvásár, zu Gast hatte, die sie spontan zu dieser Unternehmung an der Grenze als Abschlussveranstaltung der Zusammenkunft einlud.
Die Suche nach einem geeigneten Ort erwies sich als eine echte Herausforderung. Schließlich fanden die Debrecener in Sopron mit Vertretern der örtlichen Gruppe der Oppositionspartei Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), László Magas, László Nagy, János Rumpf, Felix Őrs und Pál Csóka engagierte Mitstreiter. Sopron, unweit des Gefängnisses von Fertőrákos gelegen, ist für viele Ungarn ein geschichtsträchtiger Ort, denn hier wurden Menschen, die von den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts verurteilt worden waren, hingerichtet beziehungsweise beigesetzt. Parallel gewannen die Organisatoren den reformkommunistischen Staatsminister Imre Pozsgay und Otto von Habsburg als Schirmherren des Paneuropäischen Picknicks. Beide blieben der Veranstaltung jedoch aus Sicherheitsgründen fern und entsandten als Vertreter László Vass und Walburga von Habsburg. Es war nämlich nicht absehbar, wie die Sowjetunion auf die Veranstaltung reagieren würde. Die Machthaber in Ungarn sahen das Picknick wohl auch als Möglichkeit, sowjetische Reaktionen auf den Grenzabbau auszutesten – eine Intention, von der aber die Organisatoren des Picknicks nichts wissen konnten.
Handzettel mit dem Slogan „Baue ab und nimm mit“ bewarben das Paneuropäische Picknick als großes Fest unter Freunden und Nachbarn. Einen für landwirtschaftliche Zwecke erhaltenen Abschnitt des Eisernen Vorhanges konnten die Teilnehmer als Ausdruck eines grenzenlosen Europas mit eigenen Händen abbauen und sich die Echtheit bestätigen lassen. Erst wenige Tage vor dem Picknick erhielten die Organisatoren die Bestätigung, dass es tatsächlich an einer provisorischen Grenzübergangsstelle am Alten Pressburger Weg zwischen Fertőrákos in Ungarn und Sankt Margarethen in Österreich für Österreicher und Ungarn mit gültigen Ausweisdokumenten in der Zeit von 15 bis 18 Uhr möglich sein werde, die Grenze zu passieren.
Geplant war, um 15 Uhr mit offiziellen Delegationen die provisorische Grenzübergangsstelle sowie das Picknick selbst zu eröffnen. Fast schon kafkaesk erscheint, dass an jener Stelle ein altes Holztor stand, das seit 1948 fest verschlossen und verriegelt gewesen war. Den Schlüssel zu dem am Tor angebrachten Schloss konnte niemand mehr finden. Von daher entschied man sich, das Schloss durchzubrechen und im örtlichen Baumarkt ein neues Schloss zu besorgen. Dieses wurde sorgfältig verschlossen und sollte am Nachmittag des 19. August öffentlichkeitswirksam geöffnet werden.
Schicksalsmoment für die DDR-Flüchtlinge
Elektrisiert durch die Nachrichten über den Abbau der Grenze und das Ende der politischen Eiszeit in Ungarn hofften viele Tausende Ostdeutsche in diesem Sommer auf eine Möglichkeit, von dort aus in den Westen zu gelangen. Bis zur endgültigen Grenzöffnung im September 1989 wurden an der Westgrenze Ungarns übrigens etwa 7.200 DDR-Flüchtlinge aufgegriffen, etwa 6.200 gelang die Flucht. Am 13. August 1989, dem 28. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer, musste die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest wegen Überfüllung durch Zufluchtssuchende aus der DDR geschlossen werden. Die Vorsitzende des ungarischen Malteser-Caritas-Dienstes, Csilla Freifrau von Boeselager, organisierte daraufhin gemeinsam mit dem Pfarrer der Römisch-Katholischen Gemeinde „Zur Heiligen Familie“, Imre Kozma, eine provisorische Aufnahme und Versorgung der Menschen in Zugliget und in Csillebérc. Inoffizielle Schätzungen beziffern die sich über den gesamten Sommer 1989 hinweg in Ungarn aufhaltenden Ostdeutschen auf 100.000 bis 200.000 Personen. Die Nachricht vom Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter diesen in Ungarn weilenden Menschen. Tatsächlich war es in Ungarn alles andere als ein Geheimnis, was in Sopron geplant war, denn die Picknick-Organisatoren hatten Flugblätter mitsamt Kartenausschnitten an gut 25 Botschaften übermittelt.
Die unter Führung von Oberstleutnant Árpád Bella stehenden Grenzer in Sopron wurden am Tag des Paneuropäischen Picknicks von der großen Zahl hoffnungsvoll eintreffender Ostdeutscher völlig überrascht. Zunächst glaubte Bella, es mit der offiziellen Delegation der Organisatoren und den Vertretern Österreichs und Ungarns zu tun zu haben – doch warum sollten diese um schon um 14.57 Uhr statt zu der angekündigten Zeit eintreffen? Allerdings wurde Bella schnell klar, dass die verzweifelt in Richtung Grenztor stürzenden Menschen DDR-Flüchtlinge waren, die – alles zurücklassend – nur noch den Weg nach Österreich suchten. Bella beschloss, nicht einzugreifen, ostentativ der ungarischen Seite den Rücken zuzuwenden und schließlich nur die aus Österreich Kommenden zu kontrollieren. Bis in die frühen Abendstunden gelangten so mehr als 600 DDR-Flüchtlinge in drei Schüben und vielen spontanen kleineren Durchbrüchen nach Österreich. In seiner Singularität stellte dieses Ereignis zugleich auch die größte Massenflucht seit dem Bau der Berliner Mauer dar.
Die offizielle Delegation traf übrigens erst gegen 15.30 Uhr an Ort und Stelle ein. Zu jener Zeit lag sich der erste „Schwung“ der Ostdeutschen schon längst auf österreichischer Seite freudig in den Armen, erleichtert, es geschafft zu haben. Das Tor mit dem sorgsam angebrachten neuen Schloss war längst durchbrochen worden. Um aber medienwirksame Bilder zu produzieren und in alle Welt aussenden zu können, machten die Veranstalter das Tor wieder zu, schlossen es ab und öffneten es dann für die Kameras. Diese Aufnahmen sind auch der Nachwelt überliefert.
Für die DDR wurde das Paneuropäische Picknick zum Schicksalsmoment. Die Sowjetunion griff nicht ein und ließ die Ungarn gewähren. Schließlich reifte mit dem Tod von Kurt-Werner Schulz, des offiziell letzten Opfers des Eisernen Vorhangs an der Grenze zu Österreich, einige Tage später die Einsicht, dass die Grenze letztlich für Flüchtlinge aus der DDR dauerhaft geöffnet werden müsste. Damit war das Schicksal der DDR besiegelt.
Bence Bauer, LL.M
2892602 -
Antrag „Neues Forum“ auf Zulassung als Vereinigung
Seit Mitte der 1980er Jahre verschärften sich die Widersprüche in der DDR auf ökonomischem, kulturellem und auch ideologischem Gebiet enorm. Mit dem Beginn des 1985 einsetzenden Reformkurses in der UdSSR unter Michail Gorbatschow gewann auch die oppositionelle Bewegung im SED-Staat an Zulauf. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirche hatte seit 1982 zur Entstehung von sog. Basisgruppen geführt. In Leipzigs evangelischer Stadtkirche St. Nikolai hatte sich in Anlehnung an eine Initiative des damals noch in Dresden wirkenden Pfarrers Christoph Wonneberger das sog. „Friedensgebet“ als regelmäßige Plattform ehemaliger „Bausoldaten“ und kritischer Jugendlicher herausgebildet. Dieses montägliche Gebet war bereits seit 1985 von der Staatssicherheit als Hort der Konterrevolution eingestuft worden und stand unter ständiger Beobachtung. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Berliner Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 und der anschließenden Verhaftungen und auch im Zusammenhang mit der immer stärker werdenden „Ausreisebewegung“ entwickelte sich das Friedensgebet zum Sammelbecken von Menschen, auch solchen ohne kirchliche Bindung, die dem Staat und seiner Politik gegenüber kritisch eingestellt waren.
Der jetzt in Leipzig tätige Wonneberger vernetzte nunmehr verschiedene seit Anfang der 80er Jahre tätige Basisgruppen miteinander und zog sich damit auch seitens der Kirchenleitung Kritik zu. Diese hatte sich zum Teil im Rahmen der offiziellen Kirchenpolitik gegenüber den SED-Machthabern verpflichtet, als Kirche im Sozialismus und nicht gegen den Sozialismus zu wirken. Dazu kam, dass viele Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter als inoffizielle Mitarbeiter (IMs) des Staatssicherheitsdienstes tätig waren und alle oppositionellen Aktivitäten sofort meldeten. Seit den Berliner Verhaftungen fanden in Leipzig Fürbittandachten und Gedenkgottesdienste in verschiedenen Kirchengemeinden statt.
Am 15. Januar 1989 plante die „Initiative zur demokratischen Erneuerung“ anlässlich des 70. Jahrestags der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg eine eigene Gedenkdemonstration. Aus diesem Anlass wurden Flugblätter mit aktuellen Forderungen in Hausbriefkästen verteilt. Bereits einen Tag später verhaftete die Stasi die Flugblattverteiler. Die Demonstration fand dennoch statt, wenn auch nur mit ca. 500 Teilnehmern, und stellte gewissermaßen die Initialzündung für die Ereigniskette des Jahres 1989 dar. Nach der durch die Bundesrepublik erwirkten Freilassung der Aktivisten schlossen sich die unterschiedlichen Gruppen anlässlich der Überprüfung der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 enger zusammen. Die republikweite Aufdeckung der Wahlfälschungen durch die SED rief flächendeckende Proteste hervor, führte aber noch nicht zu Massenaktionen.
Erst die im Sommer einsetzende Massenflucht von DDR-Bürgern über „sozialistische Bruderstaaten“ einerseits und andererseits die Tatsache, dass die Staatsführung sich allen Forderungen nach Reformen verschloss, führten zum Entstehen eines alle Bevölkerungsschichten umfassenden Protestpotenzials. Am 4. September nutzen Basisgruppenmitglieder die wegen der Leipziger Herbstmesse anwesenden Kameras des ZDF und entrollten auf dem Nikolaikirchhof drei Transparente mit politischen Forderungen. Nicht zuletzt die am Abend ausgestrahlten Fernsehbilder, die die zivilen Stasigreifer ebenso dokumentierte wie die Rufe sowohl der bleibewilligen Demonstranten als auch der Ausreisewilligen, bewirkten, dass sich die Anzahl der „Montagsdemonstranten“ wöchentlich verdoppelte.
Die am 30. September endlich erreichte Ausreise der ersten 5.000 Prager Botschaftsbesetzer und deren zweimalige Reise in verschlossenen Zügen durch die DDR heizte das täglich anwachsende Protestpotenzial im Lande weiter an. Nach Straßenschlachten vor dem Dresdner Hauptbahnhof am 4. Oktober kam es in Berlin am 7. Oktober zu Massenprotesten vor dem Palast der Republik, wo gerade der 40. Jahrestag der DDR offiziell gefeiert wurde. Die Forderungen der Demonstranten wurden mit Polizeiterror beantwortet. In Leipzig, Plauen und andernorts kam es zu Verhaftungen im großen Stil und mit neuer Qualität. In Leipzig wurden die Festgenommenen in vorher vorbereitete Pferdeställe gebracht. Der nächste Montag, der 9. Oktober 1989, sollte nun zum Tag der Entscheidung werden. Nach den Worten Honeckers war mit der Konterrevolution auf Leipzigs Straßen ein für allemal Schluss zu machen. Zu diesem Zweck waren 8.000 Bewaffnete zusammengezogen worden, die mit maximal 5.000 Demonstranten rechneten. Dieses letzte Gewaltszenarium der SED-Herrscher scheiterte jedoch an der enormen Friedfertigkeit der tatsächlich erschienenen 70.000 Demonstranten. Das System implodierte. Nach vier weiteren Demonstrationswochen überschlugen sich schließlich am Abend des 9. November, des Schicksalstages der Deutschen, die Ereignisse. Mit der Öffnung bzw. dem Fall der Mauer war das wohl wesentlichste Ziel der Friedlichen Revolution in der DDR erreicht. Weniger als ein Jahr später war dann auch die Vereinigung beider Teile Deutschlands vollzogen.
Online-Leseempfehlungen
- Stacheldraht gegen „Landesverrat“, Karl Wilhelm Fricke, Die Politische Meinung, Sankt Augustin, 8. Aug. 2006.
- Zeitzeugenbericht von Dr. Axel Hartmann, 1989 stellvertretender Leiter des Ministerbüros beim Chef des Bundeskanzleramts Rudolf Seiters: „Von der Zuflucht in deutsche Botschaften zur Einheit Deutschlands“.
- Dagmar Schipanski, Bernhard Vogel: Dreißig Thesen zur deutschen Einheit. Freiburg 2009.
2892620 -
Aufnahme der DDR in den RGW
Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – im Westen auch COMECON oder CMEA (Council for Mutual Economic Assistance) genannt – war der Zusammenschluss sozialistischer Staaten mit dem Ziel einer „sozialistischen ökonomischen Integration“. Seine Gründung im Januar 1949 war allerdings vorwiegend politisch motiviert: Unter dem Druck Stalins sollte verhindert werden, dass die kleineren osteuropäischen Länder ihre gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem Westen wieder aufnahmen und sich an dem von amerikanischer Seite initiierten Wiederaufbauprogramm (Marshall-Plan) beteiligten. Stattdessen mussten sich Bulgarien, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn als Gründungsmitglieder verpflichten, ihren Außenhandel mit der Sowjetunion durch eine entsprechende Industrialisierungspolitik auszubauen. Gleiches galt für die kurze Zeit danach aufgenommenen Vollmitglieder Albanien (1949; stellte Mitarbeit 1962 ein) und DDR (1950). Mit dem späteren Beitritt der Mongolei (1962), Kubas (1972) und Nordvietnams (1978) wollte die Sowjetunion ihren politischen Einfluss auch außerhalb Europas festigen.Neben den Vollmitgliedern erhielten verschiedene sozialistische Länder einen Beobachterstatus (u.a. Nordkorea, China bis 1966, Nicaragua, Moçambique, Angola, Äthiopien und Jugoslawien).
Das 1959 verabschiedete RGW-Statut machte die „konsequente Verwirklichung der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung im Interesse des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus“ zum verbindlichen Ziel der RGW-Zusammenarbeit. 1962 scheiterte der Versuch Chruschtschows, eine supranationale Wirtschaftsplanung einzuführen; stattdessen einigte man sich auf die Koordinierung der staatlichen Fünfjahrpläne als Hauptmethode der Zusammenarbeit. Sie war erneut Gegenstand des 1971 verabschiedeten „Komplexprogramms“; damit sollten vor allem mittel- und langfristige Maßnahmen der Strukturpolitik, der Entwicklung von Wissenschaft und Technik sowie der „Spezialisierung und Kooperation“ im Bereich der Industrieproduktion abgestimmt werden. Beabsichtigt war, durch eine länderspezifische Aufteilung der Produktionsgebiete und entsprechende Austauschvereinbarungen„ökonomisch unbegründete“ Parallelproduktionen im RGW zugunsten eines komplementären Güteraustauschs abzubauen.Man kam jedoch hier wie auch bei dem Vorhaben, „langfristige Zielprogramme“ für zehn bis 20 Jahre miteinander abzustimmen, kaum über programmatische Erklärungen hinaus.
Oberstes Entscheidungsorgan war die einmal jährlich stattfindende Ratstagung, auf der die Ministerpräsidenten der Mitgliedsländer die Grundsätze der Zusammenarbeit beschlossen. Vollzugsorgan war das Exekutivkomitee, das sich aus Stellvertretern der Ministerpräsidenten zusammensetzte. Daneben bestanden sechs Komitees und 22 Ständige Kommissionen, die für den Warenaustausch einzelner Branchen oder für allgemeine Fragen wie Valuta- oder Finanzbeziehungen zuständig waren. Für die Beschlüsse aller Organe galt das Einstimmigkeitsprinzip, allerdings beschränkt auf die jeweils „interessierten“ Mitglieder. Da den Mitgliedstaaten laut Statut volle Souveränität garantiert war, verfügten die RGW-Organe gegenüber den nationalen Planungsbehörden ausschließlich über ein Empfehlungsrecht, so dass die Beschlüsse oft nur zögernd ausgeführt wurden.
Aufgrund der Planungshoheit der Mitgliedsländer und der Inkonvertibilität der Währungen wurden nahezu ausschließlich bilaterale und mengenbezogene Handelsverträge abgeschlossen. Auch die Vertragspreise, die im Intra-RGW-Handel an gleitende Fünfjahresdurchschnitte der Weltmarktpreise gekoppelt waren, wurden in bilateralen Verhandlungen auf Regierungsebene festgelegt. Daran hatte auch das 1964 eingeführte multilaterale Verrechnungssystem über die Internationale Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) mit Hilfe des Transferrubels als künstlicher Verrechnungseinheit nichts geändert. Der Grund hierfür lag in der stark eingeschränkten Verwendungsmöglichkeit von Transfer-Rubel-Guthaben, die in der Regel von den Partnerländernnicht mit „volkswirtschaftlich wichtigen Gütern“, sondern mit „weichen“ Waren abgegolten wurden.
Nachdem die RGW-Länder auf einem Gipfeltreffen 1984 beschlossen hatten, sich stärker an der weltweiten Arbeitsteilung zu beteiligen, wurden „harte“ Güter vorwiegend für den Export in westliche Industrieländer verwendet – nicht zuletzt, um sich den inzwischen angewachsenen Schuldendienst leisten zu können.
Gleichwohl war der Handel der europäischen RGW-Länder nach wie vor in starkem Maße auf die UdSSR als Rohstofflieferant und Absatzmarkt für industrielle Produkte konzentriert. Der nach 1989 einsetzende Übergang der meisten RGW-Staaten zur Marktwirtschaft bedeutete daher eine völlige Neuorientierung der Außenwirtschaftsbeziehungen. Als die Mitglieder schließlich beschlossen, zum 1. Jan. 1991 ihre Verrechnungen vom Transferrubel auf konvertible (West-)Währung zu Weltmarktpreisen umzustellen, war das Schicksal des RGW besiegelt. Seine formelle Auflösung erfolgte auf der 46. Ratstagung in Budapest am 28. Juni 1991.
2892628 -
Feierlichkeiten und Demonstrationen am 40. Jahrestag der DDR-Gründung
Der 7. Oktober 1989 ist der 40. Jahrestag der DDR. Eine Militärparade soll an diesem Nationalfeiertag die Stärke des Sozialismus demonstrieren. Doch viele Menschen wollen dem bestellten Jubel etwas entgegensetzen. Sie sammeln sich auf dem Berliner Alexanderplatz, um auch an diesem Tag gegen die gefälschte Kommunalwahl zu protestieren. Binnen kürzester Zeit schließen sich mehrere tausend Menschen an.
Die Polizei errichtet Sperren, Anti-Terror-Einheiten der Stasi prügeln mit Knüppeln auf Demonstranten ein. Polizei und Stasi setzen Wasserwerfer, Reizgas und Schlagringe ein. Insgesamt gibt es 1.071 "Zuführungen", wie Festnahmen im Stasi-Jargon heißen. Mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen die friedlichen Demonstranten wird der Jubiläums-Pomp endgültig zur Farce. Kamerateams von ARD und ZDF zeigen Bilder von den Prügelszenen und von Verletzten.
Fast 250 Kilometer südlich von Berlin, im sächsischen Plauen, können Polizei und Stasi eine Demonstration von 15.000 Menschen nicht mehr auflösen. Zwei Tage später beteiligen sich 70.000 Menschen an der Kundgebung in Leipzig. Sie geht als erster großer Sieg der Friedlichen Revolution in die Geschichte ein.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/jubel-und-pruegel-zum-ddr-jubilaeum-353658
2892636 -
Rücktritt der DDR-Regierung
In Volkskammer und Politbüro toben seit Wochen Machtkämpfe und eine Welle von Rücktritten überrollt die DDR. Die Genossen suchen in den eigenen Reihen nach Verantwortlichen für Misswirtschaft und Volkszorn. Mitten im Strudel der Ereignisse verkündet Regierungssprecher Wolfgang Meyer am 7. November 1989 den Rücktritt des kompletten Ministerrats.
Tatsächlich ist dieser Rat nie mehr als ein Verwaltungsinstrument der SED. Der Ministerrat muss den Weisungen des Politbüros folgen, das sieht die Verfassung vor. Die politischen Entscheidungen trifft das Politbüro der SED, welches auch regiert.
Einen Tag später tritt das Politbüro ebenfalls zurück. Beinahe stündlich ändert sich die Lage in der DDR. Jedoch steht schon ein „neues" Politbüro bereit: Egon Krenz als Vorsitzender und sieben Mitglieder des Honecker-Politbüros bleiben, nur eine Handvoll frischer Gesichter kommt dazu.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/eine-regierung-verschwindet-337178
2892644 -
Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze
Am Abend des 9. November 1989 ist Deutschland noch in Ost und West geteilt. Die Mauer trennt Berlin in zwei Teile, doch der Druck der Demonstrationen und die Massenflucht der letzten Monate zeigen Wirkung. Das SED-Politbüro beschließt Regelungen für die freie Ausreise und Besuchsreisen.
Als Politbüro-Mitglied Günter Schabowski vor die Presse tritt, erwarten die Journalisten Näheres zu diesen Beschlüssen. Auf die Frage, wann die neue Reiseregelung in Kraft tritt, sagt Schabowski: "Sofort - unverzüglich". Um kurz vor 19:00 Uhr geht die Sensationsmeldung um die Welt: Die Mauer ist offen! Die Grenzsoldaten sind jedoch noch gar nicht über das neue Reisegesetz informiert. Es hätte an den Grenzübergängen leicht zu einem Blutvergießen kommen können.
Um Mitternacht sind alle Grenzübergänge im Berliner Stadtgebiet geöffnet, tausende Ostberliner drängen in den Westen und werden mit unbeschreiblichem Jubel empfangen. Als die Nachricht um 20:30 Uhr im Deutschen Bundestag in Bonn eintrifft, stimmen die Abgeordneten spontan die Nationalhymne an.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/die-mauer-ist-offen--403858
2892652 -
Rücktritt des Politbüros und des ZK der SED
Am 3. Dezember 1989 findet die 12. und letzte Tagung des Zentralkomitees der SED statt. Geleitet wird sie von SED-Generalsekretär Egon Krenz. Dort erklärt das Zentralkomitee geschlossen seinen Rücktritt. Nachdem schon am Vorabend tausende Bürger wegen der gefälschten Kommunalwahlen im Mai gegen Machtmissbrauch demonstrieren, fordern nun auch zahlreiche SED-Mitglieder den Rücktritt des Politbüros. Um die Existenz der SED zu sichern, tritt das SED-Politbüro geschlossen zurück. Zuvor hat es eine Reihe von Genossen aus der Partei ausgeschlossen, die vor kurzem noch die Macht hatten, darunter Erich Honecker und Erich Mielke.
Viele Bürgerrechtler sehen hierin den Versuch, die Schuld des Machtmissbrauchs auf einzelne Sündenböcke abzuwälzen.
Um die Ursachen der Parteikrise zu klären, wird ein Arbeitsausschuss gebildet. Mitglieder sind unter anderem Gregor Gysi und Lothar Bisky, die in der PDS/Die Linke führende Positionen übernehmen werden.
Quelle:
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/sed-politbuero-tritt-zurueck-480230
2892672 -
„Zentraler Runder Tisch“ tagt zum ersten Mal
Am 7. Dezember 1989 kommt der sogenannte „Zentrale Runde Tisch“ zum ersten Mal zusammen. Er entspringt einer wesentlichen Forderung der Oppositionsgruppen und der neuen Parteien. Die Idee kommt aus Polen: Vertreter der Macht und Opposition treffen sich und führen Gespräche. Dem Selbstverständnis der Teilnehmer zufolge ist der Runde Tisch ein „Bestandteil der öffentlichen Kontrolle“. Getagt wird im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin Mitte. Bis zum März 1990 gibt es insgesamt 16 Sitzungen. Beschlossen werden rund hundert Gesetzentwürfe und sogar einen Entwurf für eine neue Verfassung der DDR. Dieser Entwurf stößt aber nur auf wenig Interesse, denn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wollen die Einheit.
Dennoch ist der „Zentrale Runde“ Tisch ein großer Erfolg. Er findet auf kommunaler und regionaler Ebene viele Nachahmer, und die neuen politischen Gruppen können so ihr öffentliches Profil stärken. Zudem werden die Sitzungen ab Januar 1990 live im DDR-Fernsehen übertragen.
Quelle:
2892682 -
Volkskammerwahlen
Am 18. März 1990 wählten die Deutschen in der DDR zum ersten und letzten Mal in freien Wahlen die Volkskammer. Die Wahl wurde zu einem überwältigenden Sieg der von der CDU in der DDR angeführten „Allianz für Deutschland“. Wahlfälschungen in der DDR: Die Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 als Anfang vom Ende der DDR
Seit der ersten Volkskammerwahl im Jahr 1950 versuchte die SED durch systematische Wahlfälschungen ihre Macht in der DDR zu legitimieren und ihre in der Verfassung der DDR festgeschriebene führende Rolle zu bestätigen. Zudem sollten die ‚Wahlen’ dem Regime internationale demokratische Reputation und damit indirekt auch innenpolitische Stabilität verschaffen. Nach Glasnost und Perestroika und nachdem in Polen und Ungarn bereits (halb-)freie Wahlen stattgefunden hatten, griffen Bürgerrechtler bei der DDR-Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 mit der Überwachung der Wahllokale und der Kontrolle der Stimmenauszählung erstmals aktiv in den politischen Prozess in der DDR ein und läuteten mit dem Nachweis der Manipulation und Fälschung den Anfang vom Ende der DDR ein.
Vom Nachweis des Wahlbetrugs im Mai 1989 führte ein direkter Weg zur Friedlichen Revolution im Herbst des Jahres und schließlich auch zur Wiedervereinigung. Denn mit zunehmender Quantität, Vernetzung und Breite der Bürgerbewegung bei gleichzeitigem Autoritätsverlust der SED konnte die Wahlfrage zur generellen Systemfrage erweitert werden. Der angebliche „antifaschistische Schutzwall“ konnte jetzt als eine Mauer entlarvt werden, die die Menschen in der DDR von Freiheit und Demokratie fernhalten sollte. Tausende DDR-Bürger kehrten ihrem Staat den Rücken und flohen im Sommer 1989 über Ungarn und Österreich oder über die bundesdeutschen Botschaften in Prag und in Warschau in den freien Teil Deutschlands.
Freie Wahlen als Erfolg der Friedlichen Revolution in der DDR
Nach den pompös-propagandistischen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober 1989 gab es kein Halten mehr: Massenflucht in den Westen und Massendemonstrationen, Sturz Honeckers, Fall der Mauer, Bildung des „Runden Tisches“ Anfang Dezember 1989, Umschlagen der Parole „Wir sind das Volk!“ in die Wiedervereinigungsforderung „Wir sind ein Volk!“ und schließlich freie Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 und freie Kommunalwahlen am 6. Mai 1990.
Die freie Volkskammerwahl setzte als „Revolution an der Wahlurne“ (Hans Michael Kloth) die Revolution auf der Straße fort und besiegelte mit dem Machtverlust der SED nach der Freiheits- auch die Einheitsrevolution.
Die Wahl war wegen des raschen Autoritätsverfalls der am 13.11.1989 gebildeten Regierung Modrow von Mai auf März 1990 vorgezogen worden. Sie wurde nach einem reinen Verhältniswahlsystem ohne Sperrklausel durchgeführt. 24 Parteien bzw. Wahlbündnisse standen zur Wahl. Allen war an einem friedlichen Übergang zur Demokratie gelegen, nahezu alle Parteien und die meisten Gruppierungen traten mehr oder weniger entschieden für die deutsche Einheit ein, sogar die SED/PDS - es ging nicht mehr um das „Ob ?“, sondern um das „Wie ?“ Auch die große Masse der Bevölkerung wünschte zum Zeitpunkt der Wahl keine ‚andere DDR’, sondern die rasche Einheit Deutschlands.
Volkskammerwahl vom 18. März: Parteien, Gruppierungen, Wahlbündnisse
Insofern war es nicht wirklich erstaunlich, dass aus der Wahl diejenigen Kräfte als klare Sieger hervorgingen, die sich entschieden zur parlamentarischen Demokratie, zur raschen Herstellung der Einheit, zur Sozialen Marktwirtschaft und zur sofortigen Einführung der D-Mark bekannten. Diese Kräfte waren im Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ zusammengeschlossen. Es setzte sich aus der CDU in der DDR unter ihrem neuen Vorsitzenden Lothar de Maizière, der den Spuren der CSU folgenden Deutschen Sozialen Union (DSU) unter dem protestantischen Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling und dem Demokratischen Aufbruch (DA), einer aus der Bürgerbewegung gekommenen, sich an die West-CDU anlehnenden und deutlich einheitsorientierten Partei zusammen. Dieses Bündnis aus konservativen Kräften, das am 5.2.1990 auf Initiative und im Beisein von Bundeskanzler Kohl geschmiedet worden war, wurde im Wahlkampf von der West-CDU massiv unterstützt. Kohl hatte sich nach anfänglichen erheblichen Bedenken gegen ein ‚Zusammengehen’ mit der ehemaligen Blockpartei CDU schließlich doch dazu durchringen können, weil diese sich bei einem Sonderparteitag Mitte Dezember 1989 organisatorisch, programmatisch und personell erneuert und überzeugend ihre Mitschuld an den „Deformationen in der DDR“ bekannt und den Sozialismus als „leere Hülse“ abgetan hatte. Außerdem war sie in der „Allianz“ mit unbelasteten Kräften der Friedlichen Revolution verbunden, war auf Drängen der West-CDU Ende Januar 1990 aus der Modrow-Regierung ausgetreten und verfügte überdies über einen intakten und eingespielten Parteiapparat.
Text von Hans-Jürgen Klegraf und Manfred Agethen
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Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
Am 1. Juli 1990 ersetzt die D-Mark die "Mark der DDR". Außerdem entfallen die Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten und innerhalb Berlins. Die Voraussetzungen wurden mit dem "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" geschaffen. Bundeskanzler Helmut Kohl, DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière sowie die Finanzminister Theo Waigel und Walter Romberg haben ihn am 18. Mai 1990 unterzeichnet.
"Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!", ist schon seit Ende 1989 auf Kundgebungen zu hören. Gleich nach dem Mauerfall ist die D-Mark zum inoffiziellen Zahlungsmittel geworden. Ab Januar 1990 können die DDR-Bürger sogenannte „Valutakonten“ (im DDR-Sprachgebrauch waren „Valuta“ westliche Währungen, meist D-Mark) eröffnen, der offizielle Umtauschkurs beträgt 1 DM : 5 DDR-Mark. Für viele Menschen erfüllt sich mit der Währungsunion der Wunsch nach einer stabilen Währung.
Ende Juni versorgen Dutzende gut gesicherte Geldtransporter die Banken in der DDR mit D-Mark-Scheinen und -Münzen. Der 1. Juli ist ein Sonntag, aber die meisten Geschäfte haben geöffnet.
Quelle:
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Gründungsparteitag der SED
Die SED war die Staatspartei der DDR und verstand sich als die von allen gesellschaftlichen Kräften anzuerkennende politische Führung im Kampf für den Aufbau des Sozialismus bzw. Kommunismus und um den Frieden. Ebenso sah sie sich als fester und untrennbarer Bestandteil der kommunistischen Weltbewegung. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand am 21./22. April 1946 durch einen Zusammenschluss der KPD mit der SPD, der aufgrund von massivem Druck von Seiten der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgt war. Sie zählte zunächst 1,2 Millionen Mitglieder. Im Jahre 1984 waren es dann über 2,2 Millionen Mitglieder bzw. Kandidaten: Etwa jeder fünfte erwachsene Bürger der DDR war somit Mitglied oder Kandidat der SED. Mit dem Marxismus-Leninismus als der offiziellen Weltanschauung wurden sämtliche wesentlichen ideologischen und organisatorischen Zielsetzungen der Partei begründet. Ab 1948 begann die Umwandlung der SED zur „Partei neuen Typus“ im Sinne des Leninismus.
Als kommunistische Partei hatte die SED auf der einen Seite die führende Rolle der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) anzuerkennen und Verbindung zu den Bruderparteien vor allem in Osteuropa sowie weltweit zu pflegen. Auf der anderen Seite musste sie in enger Kampfgemeinschaft mit der KPdSU die historische Mission der Arbeiterklasse weltweit und im Speziellen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erfüllen.
Die SED verstand sich als führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen. In der sozialistischen Verfassung der DDR von 1968 (.pdf) (i. d. F. von 1974) war die führende Funktion der SED bereits in Art. 1 beschrieben: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Das Staatsoberhaupt (von 1949 bis 1960 Präsident Wilhelm Pieck, ab 1960 der jeweilige Staatsratsvorsitzende), wurde bis 1989 immer von der SED gestellt.
Zentralkomitee
Höchstes Organ der SED war der Parteitag. Dieser wählte alle fünf Jahre das Zentralkomitee (ZK) der SED. Von diesem wurden jeweils das Politbüro des ZK sowie das Sekretariat des ZK mit dem Generalsekretär (zeitweise „Erster Sekretär“) an der Spitze gewählt. De facto war der Generalsekretär die wichtigste Person im Staat und hatte mehr Macht als Staatsoberhaupt und Regierungschef. Von 1960 bis 1971 (Walter Ulbricht) sowie von 1976 bis 1989 (Erich Honecker) wurden die Ämter des Generalsekretärs und des Staatsratsvorsitzenden in Personalunion ausgeübt, ebenso für kürzere Zeit in der Umbruchsperiode (Egon Krenz).
Die SED-Strukturen wiederholten sich gemäß den Prinzipien des demokratischen Zentralismus auf Bezirks- (Bezirksdelegiertenkonferenz, Bezirksleitung, Sekretariat) und Kreisebene (Kreisdelegiertenkonferenz, Kreisleitung, Sekretariat). An der Basis standen die Grundorganisationen der SED, z. B. in den Betrieben, den (Hoch-)Schulen oder bei der NVA.
In der politischen Rangfolge standen die Mitglieder des ZK über den Ministern; die Sekretäre und Abteilungsleiter des ZK waren gegenüber den staatlichen Ministern weisungsbefugt. Andererseits gab es zwischen ZK und Regierung (Ministerrat) auch personelle Überschneidungen (z. B. Staatssicherheits-Minister Erich Mielke oder Verteidigungs-Minister Heinz Keßler). Dem ZK bzw. den zwölf ZK-Sekretären unterstanden etwa vierzig Abteilungen und Arbeitsgruppen. Ebenfalls dem ZK unterstellt waren die folgenden Institutionen: die Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG), das Institut für Marxismus-Leninismus (IML), das Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung (ZSW), die Parteihochschule Karl Marx (PHS) und die Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft (Zentrag).
Die SED besaß das größte Verlagshaus der DDR, den „Dietz Verlag Berlin“ und sie gab u. a. die zentrale Tageszeitung „Neues Deutschland“, Regionalzeitungen in den Bezirken, das monatliche Theorieorgan „Einheit“, die halbmonatlich erscheinende Zeitschrift „Neuer Weg“ und parteiintern „Was und wie“ heraus.
Dem reibungslosen Informationsfluss von unten nach oben zur obersten Parteileitung der SED diente ein geschlossenes, von den untersten Parteieinheiten bis zum Zentralkomitee reichendes Berichts- und Informationssystem, welches ebenso von oben nach unten etwa die Beschlüsse des ZK bis hinein in die Grundorganisationen vermittelte. Diese Parteiinformation war ein besonderer Sektor im Apparat des ZK sowie in den jeweiligen Abteilungen „Parteiorgane“ der Bezirks-, Stadt- und Kreisleitungen. Diese Parteiorgane arbeiteten eng mit der Staatssicherheit zusammen. Da die SED neben der ideologischen Kompetenz auch die politische Richtungskompetenz besaß und so keine Gewaltenteilung und Kontrolle zuließ, war ihre Macht in der DDR absolut.
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Ende der Berliner Blockade
Im Juni 1948 wird die DM als neue Währung in den westlichen Besatzungszonen und auch in den Westsektoren Berlins eingeführt. Daraufhin sperren sowjetische Truppen in der Nacht zum 24. Juni 1948 alle Zufahrtswege nach West-Berlin ab. Die Westalliierten versorgen daraufhin West-Berlin aus der Luft mit den lebenswichtigen Gütern. Alle zwei bis drei Minuten landet ein „Rosinenbomber“ auf einem der drei West-Berliner Flughäfen. Nach fast einem Jahr wird die Berlin-Blockade im Mai 1949 aufgehoben. 2976847 -
Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland
Der Parlamentarische Rat erarbeitete in der Zeit vom 1. September 1948 bis zur Unterzeichnung am 8. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Am 23. Mai 1949 trat es in Kraft. Die Ausgangslage
Die Ausgangslage für eine deutsche Staatsgründung nach der moralischen, wirtschaftlichen und humanitären Katastrophe 1945 war bestimmt von der Not der Nachkriegszeit. Deutschland, verkleinert um die Ostgebiete, war in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Während in den drei westlichen Zonen die USA, Frankreich und Großbritannien in immer stärkerem Maße den Deutschen politische Rechte zurückgaben, bereitete die SED in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) den Weg in eine stalinistische Diktatur vor.
Waren die Abspaltung der SBZ und die Währungsreform schon wesentliche Weichenstellungen, so ist doch die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik nach zwei verlorenen Kriegen und immer im Kontrast zur kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland nicht denkbar ohne die Rolle Konrad Adenauers. Der ehemalige Oberbürgermeister von Köln hatte mit knapper Not die Verfolgung durch die Gestapo überlebt, und wurde nach der Kapitulation wieder in sein altes Amt eingesetzt. Trotz seiner erneuten Absetzung durch die britische Besatzungsmacht, gelang ihm schnell der erneute Aufstieg in politische Ämter.
Als im September 1948 der Parlamentarische Rat zusammentrat, um eine deutsche Verfassung zu beraten, wählten die Mitglieder Adenauer zum Präsidenten. Die SPD, die sich darauf konzentriert hatte, Carlo Schmid zum Vorsitzenden des Hauptausschusses wählen zu lassen, sah sich getäuscht: Nicht Schmid, sondern Adenauer wurde von der deutschen Öffentlichkeit als der wichtigste deutsche Politiker wahrgenommen.
Die Arbeit im Parlamentarischen Rat
Während der Beratungen – der Parlamentarische Rat trat am 1. September 1948 erstmals zusammen und verabschiedete am 8. Mai 1949 das Grundgesetz – versuchte die Sowjetunion, durch die Berliner Blockade (24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) die westlichen Alliierten aus Berlin heraus zu drängen und die ehemalige Reichshauptstadt in ihren Machtbereich einzugliedern. Diese unverhüllte Bedrohung stärkte den antitotalitären Grundkonsens im Parlamentarischen Rat und verbesserte gleichzeitig die Beziehungen zwischen den Deutschen und den westlichen Besatzungsmächten. Die Berliner Luftbrücke wurde zum Symbol der erfolgreichen gemeinsamen Abwehr des Kommunismus.
Trotzdem war die Formulierung des Grundgesetzes zwischen den einzelnen Fraktionen im Parlamentarischen Rat, besonders aber zwischen den Deutschen und den drei westlichen Militärgouverneuren, umstritten. Zwar bemühten sich beide Seiten, den Eindruck eines „Diktats der Alliierten“ in der Öffentlichkeit zu vermeiden, dies gelang jedoch nicht immer. Die Westmächte versuchten über zahlreiche Verbindungsoffiziere und mit geheimdienstlichen Methoden, sich über jede Entwicklung auf deutscher Seite zu informieren. Als die drei Militärgouverneure den ihnen zugeleiteten Entwurf des Grundgesetzes am 2. März 1949 ablehnten und der vom Parlamentarischen Rat erstellte Kompromissvorschlag ebenfalls nicht ihre Billigung fand, löste dies eine Krise aus. Strittig war vor allem die Finanzverfassung.
Da aber gleichzeitig an der Formulierung des Besatzungsstatuts gearbeitet und die Pariser Außenministerkonferenz mit der Sowjetunion vorbereitet wurde, wirkte sich der Zeitdruck zugunsten der Deutschen aus. Am 25. April einigten sich die Militärgouverneure mit einer Delegation des Parlamentarischen Rats in Frankfurt. Am 8. Mai 1949, dem vierten Jahrestag der Kapitulation, verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 gegen zwölf Stimmen. Vier Tage später wurde es von den drei westlichen Alliierten bestätigt und danach sukzessive von den Landtagen der westdeutschen Länder (bis auf Bayern) ratifiziert. In seiner letzten Sitzung stellte der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 die Annahme des Grundgesetzes fest, das in einem feierlichen Akt ausgefertigt wurde. Um 0.00 Uhr des folgenden Tages trat es in Kraft.
Das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“
Der Parlamentarische Rat hatte mit dem Grundgesetz ein ausgewogenes Fundament für eine pluralistische Gesellschaft erarbeitet. Um seine Vorläufigkeit zu betonen, erhielt das Gesetz bewusst nicht den Namen "Verfassung". Damit betonten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates seine Vorläufigkeit, denn schließlich waren die Deutschen im sowjetischen Machtbereich von freier Selbstbestimmung ausgeschlossen. Gleichzeitig stand hinter seinen Formulierungen ein durch die gemeinsame Erfahrung der NS-Diktatur gefestigter Wertekonsens. Die reflektierte Berufung auf einen metaphysischen Ursprung der Rechtsordnung, so wie ihn die Präambel und der Grundrechtsteil betonten, war für den Parlamentarischen Rat, und zwar ausdrücklich auch für seine liberalen und sozialdemokratischen Mitglieder, der beste Schutz vor Wiederholung einer formal legalen Diktatur, wie es das Dritte Reich in seinen Anfängen mit der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz gewesen war: In Zukunft sollte jeder potentielle Diktator durch die Unaufhebbarkeit der Grundrechtsartikel (Artikel 1 und 20) von vorneherein gezwungen sein, den Schandfleck des Rechtsbruchs auf sich zu nehmen.
Andere Bereiche dagegen, wie etwa die Wirtschaftsordnung, regelte das Grundgesetz nur in groben Zügen. Dies lag an den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen der demokratischen Parteien. Die Tatsache allerdings, dass sich zu diesem Zeitpunkt schon die 1948 durchgeführte Währungsreform und mit ihr die Aufhebung der meisten Bewirtschaftungsvorschriften als voller Erfolg erwiesen hatten, ließ in der jetzt bundesdeutschen Innenpolitik immer weniger Gegenmodelle zur „Sozialen Marktwirtschaft“ attraktiv erscheinen – auch wenn, was heute fast vergessen ist, die Arbeitslosigkeit im Westen bis Anfang der 1950er Jahre relativ hoch blieb. Das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ war noch während der NS-Diktatur von der sogenannten Freiburger Schule, einem oppositionellen Kreis Freiburger Hochschullehrer um Adolf Lampe und Franz Böhm, entwickelt worden. Deren ordoliberale Vorstellungen sahen Privateigentum und eine weitgehende Freiheit des Marktes bei strenger Kontrolle aller kartellähnlichen Zusammenschlüsse vor. Dies erwies sich, zusammen mit einer Erweiterung durch die Einbeziehung von Mitbestimmungsrechten, als konsensfähiges Leitbild für die bundesdeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Zum populärsten Vertreter der „Sozialen Marktwirtschaft“ avancierte in der Bundesrepublik Ludwig Erhard, der Urheber des Begriffes war allerdings der Nationalökonom Alfred Müller-Armack.
Innerhalb der Union hatte sich 1949 schon mit den „Düsseldorfer Leitsätzen“ (15. Juli 1949) eine marktwirtschaftliche Orientierung durchgesetzt. Mit den „Düsseldorfer Leitsätzen“ wurden die zuvor artikulierten, weniger wirtschaftsliberalen Vorstellungen des „Ahlener Programms“ fortentwickelt und teilweise revidiert. Nach dieser programmatischen Weichenstellung war es nur folgerichtig, dass es zu einer „kleinen Koalition“ mit den Liberalen kam, nachdem die Wahlen zum Deutschen Bundestag am 14. August 1949 für die Union erfolgreich verlaufen waren. Sie ging daraus mit 31% der Stimmen knapp als stärkste politische Kraft hervor. Adenauer selbst wurde zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt, die FDP stellte mit Theodor Heuss den ersten Bundespräsidenten.
Die Weiterentwicklung des Grundgesetzes
In der Praxis haben sich die Bestimmungen des Grundgesetzes während der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik bewährt. Damit bildete das Grundgesetz die wichtigste Voraussetzung für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. In den Jahren nach seiner Verabschiedung wurde es in wichtigen Teilen ergänzt, innenpolitisch war dies jedoch stets umstritten. Zuerst kam, noch unter Adenauer, die Wehrverfassung hinzu, Ende der 1960er Jahre unter der ersten Großen Koalition dann die Notstandsgesetze.
Die Grundstruktur blieb freilich gleich. Alle Krisen wie die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre oder die Herausforderung durch den Terrorismus der RAF konnten im Rahmen des Grundgesetzes gelöst werden. Eine besondere Bewährungsprobe bildete der Weg zur deutschen Einheit nach der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90. Es zeigte sich, dass die Verfassungsordnung der Bundesrepublik ihre Leistungsfähigkeit so überzeugend unter Beweis gestellt hatte, dass der Bundestag und die jetzt demokratisch gewählte Volkskammer auf die Einberufung einer neuen verfassunggebenden Versammlung verzichteten und stattdessen die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat.Der Weg zum Grundgesetz 1949 von Wolfgang Tischner
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Wahl Walter Ulbrichts zum Generalsekretär der SED
Walter Ulbricht wird am 30. Juni 1893 in Leipzig geboren. Der Sohn eines Schneiders macht eine Lehre als Möbeltischler. Er gehört zu den Gründern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Mitteldeutschland und vertritt die Partei bis 1933 im Sächsischen Landtag und im Reichstag. Die Zeit des Nationalsozialismus verbringt er in Paris, Prag und schließlich Moskau, wo er nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ mitgründet. Als Leiter der „Gruppe Ulbricht“ kehrt er 1945 nach Deutschland zurück und beteiligt sich maßgeblich an der Bildung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Ab 1950 wird er ihr Generalsekretär bzw. 1. Sekretär, 1960 Staatsratsvorsitzender.
Im Juni1953 schlägt er mit Hilfe der sowjetischen Truppen den Volksaufstand nieder. Mit dem Mauerbau 1961 stoppt er die Massenflucht und kann zunächst die DDR wirtschaftlich und politisch stabilisieren. Aber sein Plan, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu überflügeln, scheiterte. Er verändert den Arbeitsschwerpunkt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS): Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Überwachung der Opposition im eigenen Land und nicht auf der Bekämpfung westlicher Geheimdienste. Nach und nach verliert Ulbricht die Unterstützung der Parteispitze (und der KPdSU). 1971 löst ihn Erich Honecker als 1. Sekretär der SED ab. Aber bis zu seinem Tod am 1. August 1973 bleibt er Staatsratsvorsitzender.Quellennachweis:
https://www.dhm.de/lemo/biografie/walter-ulbricht
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Die Nationale Front und die Wahlen
Formal gab es in der DDR ein Mehrparteiensystem – das allerdings lediglich ein demokratisches Mäntelchen war, das der SED-Herrschaft umgehängt wurde, denn die dominierende Partei hatte alle Fäden der Macht in ihrer Hand. Alle Parteien sowie die sogenannte Massenorganisationen waren in der „Nationalen Front“ zusammengeschlossen, die angesichts der Vormachtstellung der SED in erster Linie als Machtinstrument fungierte, durch das die Blockparteien (im Volksmund „Blockflöten“ genannt) und die Massenorganisationen diszipliniert werden konnten.
Am 10. Juni 1945 ließ der „Befehl Nr. 2“ der Sowjetischen Militäradministration die Bildung antifaschistischer, demokratischer Parteien und Gewerkschaften zu. Nach der KPD und der SPD, die sich 1946 zur SED vereinigten, gründete sich am 26. Juni 1945 die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU-D). Im Dezember 1947 hatte die CDU-D 218.000 Mitglieder. Aufgrund der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft sowie systematischer Verfolgungen sank die Mitgliederzahl stark ab – 1989 lag die sie nur noch bei 134.000. Mit ihrem Zentralorgan „Neue Zeit“ sowie regionalen Zeitungen wie „Die Union“, „Der neue Weg“ und „Der Demokrat“ war die CDU-D publizistisch tätig. Zudem besaß die Partei die beiden Verlage „Union-Verlag“ (Berlin) und „Köhler & Amelang“ (Leipzig).
Am 5. Juli 1945 gründete sich die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die im Dezember 1950 fast 200.000 Mitglieder zählte (1982 nur noch 82.000 Mitglieder). Ähnlich wie bei der CDU-D waren auch LDPD-Mitglieder von Repressionen, Verhaftungen und sogar Todesurteilen betroffen (z. B. Arno Esch – 1951 in Moskau erschossen). Die „Säuberungen“ galten auch für Regierungsmitglieder, etwa den Außenhandelsminister Karl Hamann.1952 bekannte sich die LDPD-Führung zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus und ordnete sich damit der SED unter. Die bekanntesten Vertreter der LDPD waren der 1948 verstorbene Wilhelm Külz, der erste Volkskammer-Präsident Johannes Dieckmann sowie der langjährige Vorsitzende Manfred Gerlach, der 1989 plötzlich als „Reformer“ auftrat und kurzzeitig als Staatsratsvorsitzender amtierte. Zentralorgan war die Tageszeitung Der Morgen, im Parteibesitz befanden sich zudem die „Norddeutsche Zeitung“, die „Liberal-Demokratische Zeitung“, das „Sächsische Tageblatt“ und die „Thüringische Landeszeitung“. Seit 1958 hatte die LDPD einen eigenen Verlag: „Der Morgen“.
Während sich CDU-D und LDPD als eigenständige Parteien gründeten und dabei auch an demokratische Traditionen aus der Weimarer Republik anknüpften, entstanden 1948 zwei weitere Parteien auf Betreiben der Besatzungsbehörden sowie auf Weisung der SED: Nachdem die Einheitspartei bei den weitgehend demokratischen Landtagswahlen 1946 die erhoffte absolute Mehrheit verpasst hatte, lancierte sie die Gründung der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) und der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD). Die SED konnte somit weitere wichtige Gruppen der Gesellschaft in ihr Machtsystem einbinden – Bauern über die DBD, umerzogene ehemals nationalistische Kräfte (z. B. NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere) sowie Bürgerliche und Handwerker über die NDPD.
Der DBD gehörten 1951 etwa 85.000 Mitglieder an (1982 103.000 Mitglieder). Sie war im Frühjahr 1960 aktiv an der Kampagne für die Kollektivierung in der Landwirtschaft beteiligt. Das Zentralorgan der DBD war das „Bauern-Echo“, und für die Funktionäre gab es außerdem die Zeitschrift „Der Pflüger“. Die bekannteste Personen waren der Gründungsvorsitzende Ernst Goldenbaum (bis 1982 im Amt) sowie Günther Maleuda, der vorletzte Volkskammerpräsident.Die 1982 91.000 Mitglieder zählende NDPD sollte vor allem Konkurrenz zur LDPD sein, sprachen doch beide Parteien ähnliche Zielgruppen an. Bekannteste Vertreter der Partei waren der langjährige Außenminister Lothar Bolz sowie Heinrich Homann. Das Zentralorgan war die „National-Zeitung“, zudem gab die NDPD fünf Bezirkszeitungen und die Monatszeitschrift „Der nationale Demokrat“ heraus.
Die Führungsrolle der SED gegenüber den bürgerlichen Parteien zeigte sich neben der Neutralisierung prominenter Gegner auch in der Einschränkung ihrer politischen Wirkungsmöglichkeiten: So war ihnen eine Tätigkeit in den Betrieben ebenso verboten wie eine öffentliche Mitgliederwerbung. Das System der Blockparteien konnte zu einer staatsrechtlich verankerten Einrichtung werden, da die ursprünglich bürgerlichen Parteien sich auf entsprechenden Druck der SED hin in ihrem politischen Charakter wandelten und sich schließlich widerspruchslos am sozialistischen Aufbau beteiligten. Jede der vier Blockparteien stellte 52 Abgeordnete in der Volkskammer (dies galt unabhängig vom Wahlergebnis, wo es ohnehin nur die Einheitsliste gab), einen Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden, ein weiteres Mitglied des Gremiums sowie ein Mitglied des Ministerrates, das zugleich Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates war.
Im Zuge des Prozesses der deutschen Einigung schlossen sich die ehemaligen Blockparteien sowie zahlreiche Neugründungen mit den Parteien der Bundesrepublik zusammen: Die Ost-CDU und die DBD traten der gesamtdeutschen CDU bei, LDPD und NDPD fusionierten mit der FDP.
Neben den Blockparteien sollten die Massenorganisationen in der DDR möglichst große Teile der Bevölkerung beeinflussen und kontrollieren und sie damit in das gesellschaftliche System der DDR integrieren. Die Massenorganisationen standen unter der Kontrolle der SED; fast jeder DDR-Bürger gehörte einer solchen Organisation an, meist bereits seit seiner Kindheit.
Freie Deutsche Jugend (FDJ)
Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war die einzige staatlich zugelassene und unterstützte Jugendorganisation der DDR. Das Leben in und mit der FDJ beherrschte das Leben aller Jugendlichen im großen Maße, war die FDJ doch der wichtigste Kultur-, Freizeit- und Ferienveranstalter für Jugendliche in der DDR. Langjährige FDJ-Vorsitzende waren die späteren Partei- und Staatschefs Erich Honecker und Egon Krenz. Der FDJ war mit der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ auch die politische Kinderorganisation unterstellt. Ihr gehörten fast alle Schulkinder vom 1. bis zum 8. Schuljahr als Jung- oder Thälmannpioniere an.
Weitere Massenorganisationen waren der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) als politische Organisation für Frauen, der Freie Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) als Dachverband der verschiedenen Einzelgewerkschaften, der Kulturbund (KB) für Freizeitgestaltung, Vereinsleben und Traditionspflege sowie die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). Diese vier Vereinigungen waren ebenso wie die FDJ ebenfalls in der Volkskammer vertreten, wobei ihre Abgeordneten meist gleichzeitig SED-Mitglieder waren. Die DDR-Bürger waren zudem über den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB), die paramilitärische Jugendorganisation Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) oder den Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter (VKSK) ins System integriert. All diese Kräfte konnten auf der Einheitsliste bei Kommunalwahlen Kandidaten stellen – ebenso wie etwa auch die Handelsorganisation (HO), die Konsumgenossenschaften oder die Feuerwehr.
Online-Literaturempfehlung
- Georg Dertinger: Journalist – Außenminister – Staatsfeind. Biografie über den Generalsekretär der Ost-CDU und ersten Außenminister der DDR, Peter Joachim Lapp, Freiburg 2005;
- Die Ost-CDU 1948-1952, Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 19, 1991;
- Kaderschulung in der Ost-CDU 1949-1971, Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 27, 1995.
- Absetzung der CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser und Ernst Lemmer durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, www.kas.de, 1. Januar 1997.
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Beschluss der „planmäßigen Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR“
Walter Ulbricht kündigt 1952 die Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der DDR an. Nach sowjetischem Vorbild soll der Aufbau des Sozialismus beschleunigt werden. Die Parole lautet „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.“
Ideologische Indoktrination, Stalin-Kult und "Klassenkampf" gegen Feinde des Marxismus-Leninismus sind die Folge.
Selbständige, Gewerbetreibende und Landwirte werden zur Kollektivierung gezwungen, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften sollen steigende Erträge garantieren.
Die Militarisierung wird durch Bildung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) vorangetrieben und die staatliche Zentralisierung schreitet weiter voran. Die fünf Länder werden Ende Juli 1952 aufgelöst und durch 14 Bezirke ersetzt, die das neue Präsidium des Ministerrates lenkt.
Widerstände werden unterdrückt, bis die Unzufriedenheit der Bevölkerung im Volksaufstand 1953 gipfelt.
Quelle:
Grau, Andreas/Würz, Markus: "Aufbau des Sozialismus", in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-gruenderjahre/weg-nach-osten/aufbau-des-sozialismus.html2977032 -
Auflösung der Länder in der DDR und Gründung von 14 Bezirken und 217 Kreisen
Bei der Neugliederung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hatte die Sowjetische Militäradministration 1945 Preußen zerschlagen. Davon und von der Verschiebung der deutschen Ostgrenze an die Oder-Neisse-Linie abgesehen, respektierte sie im Wesentlichen die historischen Grenzen. Es entstanden die Länder Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. 1952 wurde die DDR in einer Verwaltungsreform in 14 Bezirke aufgeteilt: Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Halle, Leipzig, Cottbus, Erfurt, Gera, Dresden, Chemnitz (1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt) und Suhl. Ost-Berlin hatte einen Sonderstatus, wurde aber wie ein Bezirk der DDR behandelt. Damit waren die Länder faktisch abgeschafft. Formal aufgelöst wurden sie am 8. Dezember 1958.
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Volksaufstand in Ungarn
Am 23. Oktober 1956 schließen sich Studenten der Budapester Universitäten zusammen, um friedlich für demokratische Veränderungen zu demonstrieren. Sie fordern bürgerliche Freiheitsrechte, ein parlamentarisches Regierungssystem und die nationale Unabhängigkeit Ungarns.
Die friedliche Demonstration gerät jedoch schnell außer Kontrolle, als sich sowjetische Truppen den Protestierenden entgegenstellen und der ungarische Staatssicherheitsdienst Államvédelmi Hatóság (ÁVH) mit Schüssen auf die Masse reagiert.
Die Zeit bis zum 4. November 1956 ist geprägt von gewaltvollen Straßenkämpfen und Regierungswechseln. Nachdem sich der neue Ministerpräsident Imre Nagy für freie Wahlen und die nationale Unabhängigkeit Ungarns ausspricht und den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärt, reagiert die Sowjetarmee mit der Besetzung des Parlamentsgebäudes in Budapest.
Der Aufstand wird letztendlich durch die übermächtige Rote Armee am 4. November beendet. Der ungarische Ministerpräsident Nagy wird gestürzt und durch eine neue pro-sowjetische Regierung ausgetauscht. Nagy wird in einem Geheimprozess am 16. Juni 1958 als Konterrevolutionär zum Tode verurteilt und am selben Tag in Budapest hingerichtet.
Quelle:
Henrick Bispinck (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1956. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Göttingen, 2016
https://www.stasi-mediathek.de/sammlung/ungarischer-volksaufstand-1956/
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Erich Mielke wird Minister für Staatssicherheit
Erich Mielke wird am 28. Dezember 1907 als Sohn einer Arbeiterfamilie in Berlin geboren und wächst im "Roten Wedding" auf. 1921 wird er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands (KJVD), 1925 der KPD. Bei einer Demonstration auf dem Berliner Bülowplatz werden am 9. August 1931 zwei Polizisten hinterrücks erschossen. Mielke wird des Mordes angeklagt und flieht in die Sowjetunion. Im Juni 1945 kehrt er nach Berlin zurück. Ab 1949 baut er die „Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft“ im Ministerium des Innern der DDR auf, die am 08.02.1950 zum Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") wird. Walter Ulbricht ernennt ihn am 01.11.1957 zum Minister für Staatssicherheit. In den folgenden Jahren stellt Mielke die Weichen für den massiven Ausbau des inneren Überwachungsapparates, das Spitzel- und Überwachungssystem, das alle Lebensbereiche der Menschen in der DDR durchdringt. Als sich der Sieg der Friedlichen Revolution nicht mehr verhindern lässt, tritt am 07.11.1989 die gesamte Regierung zurück, darunter auch Mielke. Am 08.11. folgt der Rücktritt des Politbüros, dem er seit 1950 angehört. Am 03.12.1989 schließt ihn die SED aus.
Im Oktober 1993 wird Mielke wegen der Polizistenmorde vom Bülowplatz zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Im August 1995 erfolgt seine vorzeitige Entlassung aus gesundheitlichen Gründen. Der bis zum Schluss bekennende Stalin-Verehrer stirbt am 21. Mai 2000.
Quelle: https://www.hdg.de/lemo/biografie/erich-mielke.html
2977087 -
Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften
Charakteristisch für die Eigentumsordnung in der DDR war zunächst ihre an ideologischen Gesichtspunkten ausgerichtete, hierarchische Gliederung nach Eigentumsformen, die verschiedenen Rechtsregeln unterstanden und einen abgestuften Rechtsschutz genossen. Innerhalb der Kategorie des „sozialistischen“ Eigentums wurde zwischenden drei Unterformen des staatlichen Eigentums (gesamtgesellschaftliches Volkseigentum), des genossenschaftlichen Eigentums (genossenschaftliches Gemeineigentum werktätiger Kollektive) und des Organisationseigentums(Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger) unterschieden.
Diesen nach der marxistischen Ideologie hochwertigen Formen des Kollektiveigentums standen zwei Formen des individuellen Eigentums gegenüber, nämlich das ideologisch unbedenkliche „persönliche Eigentum“ an Konsumgütern und das ideologisch verwerfliche, aber aus opportunistischen Gründen bis auf weiteres in engen Grenzen geduldete„Privateigentum“ an Produktionsmitteln. Da alle Eigentumsformen bestimmten Zwecken zu dienen hatten, unterlagen sie einer je spezifischen Funktionsgebundenheit, deren juristische Konkretisierung allerdings verschwommen blieb. Schon wegen der systembedingten Funktionsgebundenheit konnte und sollte dem Eigentümer nicht dieumfassende Sachherrschaft im Sinne des § 903 BGB vermittelt werden. Des weiteren wurde die Eigentümerposition durch die zentrale Wirtschaftsplanung und -leitung, zahlreiche öffentlich-rechtliche Beschränkungen und eigentumsähnliche Nutzungsberechtigungen derart überlagert, dass sie vielfach zu einem wirtschaftlichwertlosen, praktisch inhaltslosen Rechtstitel verkam. Die Befugnis zur Ausübung der herkömmlichen Eigentümerbefugnisse wurde auf diese Weise vom Eigentum gelöst. Die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeitdes Eigentums führte namentlich im Grundstücksrecht dazu, dass die Grundbücher vernachlässigt wurden und das juristische Eigentum nicht der tatsächlichen Sachherrschaft folgte. Die sachgerechte Bereinigung der verworrenen Eigentums- und Nutzungsverhältnisse hat nach der Wiedervereinigung den Gesetzgeber wie die Rechtsprechung auf eine harte Probe gestellt.
Staatliches Eigentum (Volkseigentum)
Das staatliche Eigentum genoss als ideologisch höchstwertige, weil total vergesellschaftete Eigentumsform bedeutende Privilegien. Die wichtigsten Produktionsmittel waren nach Art. 12 Abs. 1 Verfassung ihm vorbehalten und damit dem privaten Rechtsverkehr entzogen. Sachen in staatlichem Eigentum konnten weder verpfändet oder belastet noch ersessen werden und waren im Vollstreckungsverfahren schlechthin unpfändbar. Das Anlagevermögen der Betriebe unterlag einem grundsätzlichen Verfügungsverbot in Bezug auf private Erwerber. Ein gutgläubiger Erwerb staatlicher Grundstücke war ausgeschlossen. Diese zivilrechtlichen Regelungen, in denen der Grundsatz der Unantastbarkeit des Volkseigentums zum Ausdruck kam, wurde durch weitere Vorschriften ergänzt, die auf eine privilegierende Vermehrung der staatlichen Vermögensmasse abzielten. Der Staat als Eigentümer war natürlich ein juristisches Abstraktum.In rechtstatsächlicher Hinsicht stellte er sich als ein hochkomplexes Geflecht planender, regelnder, verwaltender und wirtschaftender Organisationseinheiten dar, unter denen die Eigentümerbefugnisse (Besitz, Nutzung, Verfügung) ebenso verteilt waren wie die traditionellen Hoheitsbefugnisse (Rechtsetzung, Vollziehung, Rechtsprechung). Die dadurch aufgeworfenen Konstruktionsprobleme wurden weder theoretisch noch gesetzestechnisch befriedigend gelöst. Insbesondere die doppelte Rechtsstellung der staatlichen Betriebe als plan- und weisungsgebundene Verwalter staatlichen Vermögens einerseits und als Träger Dritten gegenüber absolut wirkender, aber funktionsgebundener Besitz-, Nutzungs- und Verfügungsbefugnisse andererseits wurde niemals sachgerecht erfasst. Zu ihrer Kennzeichnungvermochte sich auch keine einheitliche Terminologie durchzusetzen. Lange Zeit war der aus dem Sowjetrecht übernommene Ausdruck „operative Verwaltung“ gebräuchlich; später wurde in der Wirtschaftsgesetzgebung die „Fondsinhaberschaft“ und im Grundstücksrecht die „Rechtsträgerschaft“ bevorzugt.
Gruppeneigentum
Das genossenschaftliche Eigentum, das vor allem in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Einzelhandel(Konsumgenossenschaften) und im Wohnungsbau verbreitet war, wurde als eine niedere Entwicklungsstufe des sozialistischen Eigentums betrachtet, da sich die Vergesellschaftung nur auf eine Gruppe erstreckte.Das gleiche galt für das meist stillschweigend übergangene Organisationseigentum, als dessen Träger die SED und ihre Gefolgsparteien, die Gewerkschaften, die FDJ und andere gesellschaftliche Organisationenin Betracht kamen. Beide Eigentumsformen unterschieden sich hauptsächlich nach ihrer Funktionsgebundenheit, da die Genossenschaften in erster Linie wirtschaftlichen Zwecken dienten, während die gesellschaftlichen Organisationen sehr verschiedene politische, soziale, kulturelle, propagandistische u.a. Zwecke verfolgten. Im Übrigengalten für sie die gleichen zivilrechtlichen Regeln, in denen der Unantastbarkeitsgrundsatz in abgeschwächter Form zum Ausdruck kam. Verfügungsverbot, Ausschluss der Ersitzung und des gutgläubigen Grundstückserwerbs waren ebenso maßgebend wie beim staatlichen Eigentum. Verpfändung und Belastung waren hingegen möglich. Eine Zwangsvollstreckung war nicht schlechthin, sondern nur in das genossenschaftliche Anlagevermögen und in das zur Zweckerfüllung benötigte Organisationsvermögen unzulässig.
Individuelles Eigentum
Für das persönliche Eigentum und das meist nicht ausdrücklich so benannte Privateigentum galten – trotz ihrer entgegen gesetzten ideologischen Bewertung – grundsätzlich die gleichen Regeln, die sich durch Abwesenheit der genannten Privilegien auszeichneten. Das Privateigentum wurde insofern geduldet, als es sich um „auf überwiegend persönlicher Arbeit beruhende kleine Handwerksund andere Gewerbebetriebe“ handelte (Art. 14 Abs. 2 Verfassung). FürHandwerksbetriebe wurde diese allgemeine Vorgabe gesetzlich insofern konkretisiert, als in ihnen höchstens zehn Personen beschäftigt werden durften. Ansonsten wurde das Privateigentum durch Enteignungen, faktischen Entzug der Eigentümerbefugnisse (eingebrachte Böden von LPG-Mitgliedern, staatliche Verwaltung des Flüchtlingsvermögens, öffentliche Bebauung privater Grundstücke), Genehmigungsvorbehalte (Grundstücksverkehr, Nutzungsänderungen bei landwirtschaftlichen Grundstücken) und andere administrative Praktiken auf ein Minimum zurückgedrängt. Das persönliche Eigentum sollte der Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürgerdienen. Aus dieser Funktionsgebundenheit ergaben sich praktische Abgrenzungsprobleme. Es war anerkannt, dass neben Haushalts- und Einrichtungsgegenständen, Gegenständen des persönlichen Bedarfs und Geld auch Personenkraftwagen, Eigenheime und Wochenendgrundstücke der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse dienten. Der Einsatzdes persönlichen Eigentums zur Gewinnerzielung, wie die private Vermietung von Wohnraum oder die Verwendung des PKW als Taxi, war vom Funktionsvorbehalt aber nicht mehr gedeckt. Trotzdem mussten hier ideologische Kompromisse eingegangen und Ausnahmen zugelassen werden, um etwa in Erholungsgebieten (Ostseeküste) den Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten zu befriedigen.
2977149 -
Inkrafttreten der neuen Verfassung der DDR
Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom 7. Oktober 1949 hielt noch an der Wiedervereinigung Deutschlands als „unteilbare demokratische Republik“ (Artikel 1) fest. Ihr zufolge war die DDR ein föderaler Rechtsstaat und eine parlamentarische Demokratie mit der Volkskammer oberstem Organ. In der Praxis herrscht aber die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Laut der Verfassung von 1968 ist die DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ die "politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen". Damit gibt die DDR den Wiedervereinigungsanspruch auf, verankert die „Zweistaatentheorie“ und gibt dem Führungsanspruch der SED Verfassungsrang. Trotzdem sieht die Verfassung auch die "Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung" und eine "Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus" vor.
Vgl.: Grau, Andreas: Neue Verfassung, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/reformversuche-im-osten/neue-verfassung.html
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2977193 -
Geheimbeschluss des Nationalen Verteidigungsrates der DDR: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden.“
Nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August versuchten immer noch viele Menschen zu fliehen. Deshalb trafen sich am 20. September 1961 die Mitglieder des Zentralen Stabes, der die Abriegelung West-Berlins vorbereitet hatte unter Vorsitz von Erich Honecker. Der Beschluss dieses Stabes stellt unter Punkt 8 fest: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, dass Verbrecher in der 100-Meter-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.“
Diesem Stab hatte auch damalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann angehört. Am 6. Oktober 1961 erließ er die „Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch für das Kommando Grenze der Nationalen Volksarmee“: „Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen der NVA an der Staatsgrenze West und Küste sind verpflichtet, die Schusswaffe in folgenden Fällen anzuwenden: zur Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf Anruf ,Halt! Stehen bleiben! Grenzposten!’ oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehen bleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzten und keine andere Möglichkeit der Festnahme besteht.“2977209 -
Niederschlagung des "Prager Frühlings"
Die Jahre 1967/68 waren eine bedeutende Zäsur in der internationalen Entwicklung der Nachkriegszeit. In Amerika und in Europa fand ein Generationenwechsel statt, der mit einer Vielzahl von Tabubrüchen beispielsweise im Bereich der Mode und Musik, aber auch der Politik einherging. Auch die sog. sexuelle Revolution veränderte die Jugendkultur weltweit nachhaltig. Allen damaligen antiautoritären Strömungen gemeinsam war der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt. Die Schreckensbilder des Vietnam-Kriegs, die Ermordung des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, die Studentenrevolten in Westeuropa und viele andere Ereignisse beförderten eine nie da gewesene weltweite Politisierung der Jugend.
Auch die Länder des Ostblocks blieben von diesem „wind of change“ nicht verschont. In Polen fanden im März 1968 Studentendemonstrationen für mehr politische Freiheit statt, die von der Regierung mit einer antisemitischen Hetzkampagne beantwortet wurden und viele Juden zum endgültigen Verlassen ihrer Heimat zwangen. In der ebenfalls zum sowjetischen Machtbereich gehörenden ČSSR führten wirtschaftliche Schwierigkeiten zum Beginn eines alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden und schnell eine Eigendynamik entfaltenden Reformprozesses.
Dieser sog. Prager Frühling war im Unterschied zum Aufbegehren bestimmter Kreise in der DDR oder anderen sozialistischen Staaten eine auch von oben, d. h. durch die Führung der kommunistischen Partei, in Gang gesetzte Reform, für die der Name des im Januar 1968 zum Ersten Sekretär gewählten Alexander Dubček symbolisch steht. Das propagierte Ziel war die Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, was zu einer enormen Freisetzung schlummernder schöpferischer Kreativität führte. Die Hoffnung auf wirtschaftliche Reformen und auf Meinungs- und Reisefreiheit ließen das Volk und bestimmte fortschrittliche Teile der kommunistischen Partei für kurze Zeit eng zusammenrücken. Diese Entwicklung wurde von den Hardlinern in der KPČ und den Parteioberen der sozialistischen Bruderländer mit großer Sorge beobachtet. Während die Mehrzahl der Bevölkerung in den Ostblockstaaten der Entwicklung in der ČSSR mit großer Sympathie und Hoffnung auf entsprechende Veränderungen in ihrem eigenen Land begleitete, schmiedeten die Parteichefs des Warschauer Pakts Pläne zur Beendigung des Reformprozesses.
Am 21. August 1968 marschierten dann Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR ein und besetzten strategisch wichtige Punkte des Landes. Damit wurde, angeblich auf Bitte der ČSSR-Führung, nach dem 17. Juni 1953 und dem Ungarnaufstand 1956 der dritte und bis 1989 letzte Versuch der freiheitlich-demokratischen Reformierung eines Ostblockstaates mit Waffengewalt niedergeschlagen. Der landesweit nur kurz aufflammende, aber letztlich erfolglose Widerstand forderte knapp 100 Tote und Hunderte Verletzte. Dieser Ausgang der Ereignisse führte zu einem sehr ausgeprägten Misstrauen der Bevölkerung gegen den Staat und die ihn regierende kommunistische Partei, das bis zum Untergang des kommunistischen Systems fortbestand. Einzelne Verzweiflungstaten wie die am 19. Januar 1969 erfolgte Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz und die einen Monat später erfolgte Nachahmung dieser Tat durch Jan Zajíc manifestierten besonders deutlich die tiefe seelische Verwundung der im friedlichen Reformprozess schon weit vorangeschrittenen Tschechen. Nachdem ca. einer halben Million KPČ-Mitgliedern im Zuge einer groß angelegten Säuberung der Partei das Parteibuch entzogen worden war und mehr als 150.000 Bürger der ČSSR ihrem Land den Rücken gekehrt hatten, herrschte dort eine politische Atmosphäre, die oft als „Friedhofsruhe“ beschrieben wird. Erst im Jahr 1977 artikulierte sich die nächste, bis zum Ende des Staatssozialismus aktive Widerstandsorganisation in der ČSSR, die „Charta 77“.
In der DDR machte sich im Anschluss an die Invasion eine lang angestaute Frustration Luft. Nach den sog. Beatunruhen des Jahres 1965 brachen Tausende junge Menschen und vor allem auch Künstler nun ihr Schweigen und protestierten gegen die Niederwerfung der Demokratiebewegung im Nachbarland. „In Prag ist Pariser Kommune. Sie lebt noch!“, sang beispielsweise Wolf Biermann 1968. Allein für den Zeitraum vom 21. August bis zum 4. September 1968 registrierte das Innenministerium der DDR 1.075 protestierende „Täter“, von denen 468 verhaftet und abgeurteilt wurden. Diese Solidarisierung mit den Idealen der Reformbewegung in der ČSSR blieb in der DDR bis 1989 lebendig und war eine der wesentlichen Quellen der zu Beginn der 1980er Jahre in der DDR entstandenen unabhängigen Friedens- und Demokratiebewegung. Deren Zielvorstellungen orientierten sich weniger an der Tradition des 17. Juni 1953 als vielmehr am Prager Frühling, der darauf fußenden Charta 77 und der polnischen Solidarność-Bewegung. Das waren politische Oppositionsbewegungen, die der jugendlichen Majorität in den ostdeutschen Basisgruppen näher lagen als der bis dahin in der DDR vollständig tabuisierte und propagandistisch verzerrte Juniaufstand.
2977598 -
Unterzeichnung des Grundlagenvertrags
Am 21. Dezember 1972 unterzeichnen die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin den „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“. Die Vertragspartner vereinbaren, „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ zu entwickeln: Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR von Seiten der Bundesrepublik geht damit aber nicht einher. Deshalb werden auch keine Botschaften errichtet, sondern nur „Ständige Vertretungen“. Die Bundesrepublik Deutschland hält am Ziel der Wiedervereinigung fest.
Offen bleibt die Frage der Staatsangehörigkeit: Aus Sicht der Bundesrepublik gibt es entgegen der Auffassung der SED keine besondere DDR-Staatsbürgerschaft.
Quelle:
Grau, Andreas: Grundlagenvertrag, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/neue-ostpolitik/grundlagenvertrag.html2977610 -
DDR - Bundesrepublik Deutschland 1:0 Sieg der DDR-Fußball-Nationalmannschaft bei der WM-Endrunde
Die „kleine“ DDR mit ihren 17 Millionen Einwohnern brachte über zwei Jahrzehnte hinweg sportliche Höchstleistungen hervor, die in keinem Verhältnis zur politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Bedeutung des Landes standen. Somit wurde der Spitzensport per se zum Aushängeschild des Arbeiter- und Bauernstaates. Da in kaum einem anderen Land Sport und Politik so eng verflochten waren wie in der DDR, waren sportliche Erfolge für die SED-Führung ein probates Mittel, um internationale Anerkennung zu erlangen, das Selbstbewusstsein der eigenen Bevölkerung zu stärken und die Überlegenheit des Sozialismus zu demonstrieren. Deshalb wurde sehr viel Geld in den Leistungssport investiert. So sorgten modernste Sportanlagen, neueste wissenschaftliche Trainingsmethoden, ein breites Spektrum an Forschungsinstitutionen und ein tief gestaffeltes System zur frühzeitigen Erkennung von Sporttalenten bei Kindern und Jugendlichen dafür, dass in vielen Disziplinen DDR-Sportler zu den Weltbesten zählten.
Auch nach der Wiedervereinigung wurde ein überproportionaler Anteil der deutschen Titel von Sportlern errungen, die im Arbeiter- und Bauernstaat ausgebildet worden waren. Allerdings wurde sehr schnell deutlich, dass die genannten Maßnahmen allein nicht ausreichten. Ohne den Einsatz der sog. „unterstützenden Mittel“ wäre es für das kleine Land unmöglich gewesen, so außergewöhnlich viele Medaillen zu gewinnen und Rekorde zu erringen. Aber erst nach dem Zusammenbruch der DDR wurde offiziell bekannt, dass seit Mitte der 1970er Jahre im Arbeiter- und Bauernstaat in relevanten Sportarten ein flächendeckendes Doping erfolgte. Betroffene Leistungssportler wurden teilweise ohne ihr Wissen von Trainern und Sportärzten gedopt. Dabei wurden sogar Kindern ohne Einverständnis der Eltern bzw. ohne deren Wissen regelmäßig Dopingmittel verabreicht – obwohl das Ministerium für Staatssicherheit, die Sportführung und die mit dem Doping betrauten Mediziner von den gesundheitlichen Langzeitfolgen wussten. Die Anzahl der Olympiasiege war also gerade kein Beweis für die Überlegenheit des „sozialistischen“ Systems.
2977654 -
Amnestie für fast 17.000 politische Gefangene
Am 12. Dezember werden etwa 17.000 politische Häftlinge begnadigt und können die überfüllten Gefängnisse verlassen. Dies ist das Ende der ideologisch motivierten Kriminalisierung politischer Aktivitäten in der DDR. Für sogenannte „Republikflüchtlinge“ wird bereits am 27. Oktober 1989 eine Amnestie ausgesprochen. Daraufhin treten andere Häftlinge in der DDR in einen Hungerstreik. Sie empfinden die Amnestie als willkürlich und versuchen, ebenfalls eine Begnadigung zu erzwingen. Am 6. Dezember beschließt der Staatsrat der DDR eine Amnestie für Häftlinge mit Strafen von bis zu drei Jahren. Eine Generalamnestie gibt es nicht. Politische Aktivitäten stehen fortan nur noch unter Strafe, wenn Ziele mit Terror, Gewalt und Drohung durchgesetzt werden sollen.
Zwischen dem 12. Dezember 1989 und Februar 1990 werden alle Begnadigten entlassen. Der Beschluss ist ein politisches Zeichen und soll einer Eskalation der Lage in den Gefängnissen entgegenwirken.
Quelle:
2977712 -
Erich Honecker wird erster Sekretär des ZK der SED
Erich Honecker wird am 25. August 1912 in Neunkirchen im Saarland als Sohn eines Bergmanns geboren. Mit knapp zehn Jahren wird er Mitglied der kommunistischen Kindergruppe am Familienwohnort Wiebelskirchen. 1926 tritt er dem „Kommunistischen Jugendverband Deutschland“ KJVD bei. 1930 tritt er in die KPD ein und wird hauptamtlicher Funktionär des KJVD, für den er ab 1933 im Untergrund arbeitet. Im Dezember 1935 wird er verhaftet und 1937 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er in Brandenburg-Görden absitzt.
Nach der Befreiung durch die Rote Armee stößt er zu der aus der UdSSR zurückgekehrten "Gruppe Ulbricht". Er baut die "Antifaschistischen Jugendausschüsse" auf, aus denen 1946 die Freie Deutsche Jugend (FDJ) hervorgeht, deren Vorsitzender er von 1946-1955 ist. Auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SED 1946 wird er in den Parteivorstand der SED gewählt, ab 1949 gehört er dem ZK der SED an, 1958 wird er Vollmitglied des Politbüros. 1961 leitet er die Vorbereitungen für den Bau der Berliner Mauer am 13. August. 1971 folgt er Walter Ulbricht als 1. Sekretär des ZK der SED sowie als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. 1976 wird er zum Generalsekretär der SED ernannt. Im selben Jahr wird Wolf Biermann ausgebürgert, zahlreiche Künstler und Intellektuelle verlassen die DDR. 1985 wird Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Seine Reformkonzepte lehnt Honecker kategorisch ab.
1989 fliehen vor allem junger Menschen aus der DDR in westdeutsche Botschaften in Budapest, Prag und Warschau und später über die geöffnete ungarische Grenze. Gleichzeitig demonstrieren immer mehr Menschen in der DDR, „Wir sind das Volk“ rufen sie und fordern Veränderungen. Honecker lehnt Reformen kategorisch ab. Am 18. Oktober 1989 wird er vom Politbüro zum Rücktritt von allen Ämtern genötigt und am 3. Dezember aus der SED ausgeschlossen.
Am 30. November 1990 ergeht ein Haftbefehl gegen Honecker wegen des Tatverdachts des gemeinschaftlichen Totschlags an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer, am 3. Juni 1992 wird er angeklagt. Am 12. Januar 1993 wird das Verfahren gegen den schwer krebskranken Honecker eingestellt. Am nächsten Tag reist er nach Chile zu seiner Frau Margot aus. Dort stirbt am 29. Mai 1994.
Quelle: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/reformversuche-im-osten/machtwechsel.html
Erich Honecker wird am 25. August 1912 in Neunkirchen im Saarland als Sohn eines Bergmanns geboren. Mit knapp zehn Jahren wird er Mitglied der kommunistischen Kindergruppe am Familienwohnort Wiebelskirchen. 1926 tritt er dem „Kommunistischen Jugendverband Deutschland“ KJVD bei. 1930 tritt er in die KPD ein und wird hauptamtlicher Funktionär des KJVD, für den er ab 1933 im Untergrund arbeitet. Im Dezember 1935 wird er verhaftet und 1937 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er in Brandenburg-Görden absitzt.
Nach der Befreiung durch die Rote Armee stößt er zu der aus der UdSSR zurückgekehrten "Gruppe Ulbricht". Er baut die "Antifaschistischen Jugendausschüsse" auf, aus denen 1946 die Freie Deutsche Jugend (FDJ) hervorgeht, deren Vorsitzender er von 1946-1955 ist. Auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SED 1946 wird er in den Parteivorstand der SED gewählt, ab 1949 gehört er dem ZK der SED an, 1958 wird er Vollmitglied des Politbüros. 1961 leitet er die Vorbereitungen für den Bau der Berliner Mauer am 13. August. 1971 folgt er Walter Ulbricht als 1. Sekretär des ZK der SED sowie als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. 1976 wird er zum Generalsekretär der SED ernannt. Im selben Jahr wird Wolf Biermann ausgebürgert, zahlreiche Künstler und Intellektuelle verlassen die DDR. 1985 wird Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Seine Reformkonzepte lehnt Honecker kategorisch ab.
1989 fliehen vor allem junger Menschen aus der DDR in westdeutsche Botschaften in Budapest, Prag und Warschau und später über die geöffnete ungarische Grenze. Gleichzeitig demonstrieren immer mehr Menschen in der DDR, „Wir sind das Volk“ rufen sie und fordern Veränderungen. Honecker lehnt Reformen kategorisch ab. Am 18. Oktober 1989 wird er vom Politbüro zum Rücktritt von allen Ämtern genötigt und am 3. Dezember aus der SED ausgeschlossen.
Am 30. November 1990 ergeht ein Haftbefehl gegen Honecker wegen des Tatverdachts des gemeinschaftlichen Totschlags an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer, am 3. Juni 1992 wird er angeklagt. Am 12. Januar 1993 wird das Verfahren gegen den schwer krebskranken Honecker eingestellt. Am nächsten Tag reist er nach Chile zu seiner Frau Margot aus. Dort stirbt am 29. Mai 1994.
Quelle: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/reformversuche-im-osten/machtwechsel.html2978077 -
Anerkennung der „vollen Souveränität“ der DDR durch die UdSSR
Die „Hallstein-Doktrin", benannt nach Walter Hallstein, Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1951–1958), war von September 1955 bis zur De-facto-Anerkennung der DDR in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt im Oktober 1969 die deutschlandpolitische Leitlinie der Bundesregierung. Demnach betrachtete die Bundesregierung es als einen „unfreundlichen Akt" (acte peu amicable), wenn dritte Staaten die DDR völkerrechtlich anerkennen, mit ihr diplomatische Beziehungen aufnehmen oder aufrecht erhalten. Davon ausgenommen war die UdSSR als eine der vier für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte.
Inhalt
Es existiert kein amtlicher Text, der als "Hallstein-Doktrin" bekannt gegeben wurde. Formuliert wurde die "Hallstein-Doktrin" in folgenden Ausführungen:
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Ausführungen des Rechtsberaters Erich Kaufmann und des Ministerialdirektors Wilhelm G. Grewe auf der Botschafterkonferenz des Auswärtigen Amts am 8. Dezember 1955 in Bonn,
Staatssekretär Hallstein brachte am 16. Januar 1956 in einem vertraulichen Runderlass des Auswärtigen Amts das Ergebnis der Botschafterkonferenz vom 8. Dezember 1955 lediglich intern zur Kenntnis.
Kernstaat Bundesrepublik Deutschland
Seit ihrer Gründung 1949 leitete die Bundesrepublik Deutschland aus der Präambel des Grundgesetzes das Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit ab. Aus dem Gedanken der Verantwortung für die in der sowjetischen Besatzungszone und in deutschen Ostgebieten lebenden Menschen erhob die Bundesregierung den Anspruch, „bis zur Erreichung der deutschen Einheit insgesamt die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes" (Adenauer am 21. Oktober 1949 vor dem Deutschen Bundestag) und damit eigentlicher deutscher Kernstaat und Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches zu sein. Zugleich fühlte sie sich beauftragt, dafür zu sorgen, dass „das gesamte deutsche Volk, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands" vollendet. Angesichts ihrer mangelnden demokratischen Legitimität sprach die Bundesregierung, die selbst aus freien Wahlen hervorgegangen war, der DDR das Recht ab, verbindlich für das deutsche Volk Stellung zu nehmen. Dieser Alleinvertretungsanspruch und das Bestreben, die DDR international zu isolieren, waren grundlegende Pfeiler der Deutschlandpolitik der Bundesregierung bis zum Inkrafttreten der Pariser Verträge im Mai 1955.
Nichtanerkennung der DDR
Schon im Laufe des Jahres 1954, lange bevor die sowjetische Führung Bundeskanzler Adenauer am 7. Juni 1955 zu Gesprächen nach Moskau einlud, stellte das Auswärtige Amt Überlegungen an, wie man bei Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion die Präsenz von Botschaften der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in Moskau international rechtfertigen solle. Bestrebungen sowohl westlicher Staaten wie auch blockfreier Staaten, handelspolitische oder diplomatische Beziehungen mit der DDR aufzunehmen, implizierten aus Sicht der Bundesregierung die Gefahr einer sukzessiven weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und damit der Verfestigung der Teilung Deutschlands.
Diplomatische Beziehungen zur UdSSR
Die von Bundeskanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau vom 9. bis 14. September 1955 mit der Sowjetunion vereinbarte Aufnahme diplomatischer Beziehungen machte eine Klarstellung der Bundesregierung erforderlich. Sie musste erklären, warum sie in Moskau einen zweiten deutschen Botschafter akzeptieren würde, anderen Staaten aber das Recht, gleichzeitig diplomatische Beziehungen zu beiden deutschen Staaten zu unterhalten, unter Androhung von Sanktionen praktisch verbieten wollte.
Regierungserklärung 22. September 1955
In seiner Regierungserklärung am 22. September 1955 über die Ergebnisse der Moskau-Reise betonte Bundeskanzler Adenauer daher: „Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik aufrecht. Ich muss unzweideutig feststellen, dass die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde."
Dieser Grundsatz bedurfte der weiteren Ausführung, als die von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen im Juli 1955 in Genf einberufene Außenministerkonferenz, die im November 1955 ebenfalls in Genf zusammentrat, keine greifbaren Ergebnisse zur Lösung der deutschen Frage erbrachte. Spiritus rector der Doktrin war nicht Hallstein, wie ein FAZ-Journalist meinte und damit den Namen prägte, sondern der damalige Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Wilhelm G. Grewe.Botschafterkonferenz
Auf der Botschafterkonferenz am 8. Dezember 1955 in Bonn wurde die „Hallstein-Doktrin" diskutiert. Anschließend erläuterte Ministerialdirektor Grewe am 11. Dezember 1955 die Grundsätze in einem Interview mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk. Er wies darauf hin, dass die Bundesregierung eine Intensivierung der Beziehungen dritter Staaten zur DDR als „unfreundliche Handlung" empfinden werde, auf die man mit gestuften Maßnahmen bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen reagieren könne. Eine Doppelvertretung Deutschlands bei dritten Staaten werde voraussichtlich den Abbruch der Beziehungen zur Folge haben. Damit ließ die Bundesregierung bewusst Mittel und Umfang ihrer Reaktion offen. Eine Ausnahme bildeten die beiden deutschen Botschaften in Moskau. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion als ehemalige Besatzungsmacht und eine der Vier Mächte rechtfertigte die Bundesregierung mit dem Argument, diese könnten ein Mittel zur Überwindung der Spaltung und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein.
Anwendung der "Hallstein-Doktrin"
Anwendung fand die „Hallstein-Doktrin", als das kommunistisch orientierte, aber blockfreie Jugoslawien 1957 und Kuba unter Führung Fidel Castros 1963 diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen. Die Bundesrepublik Deutschland brach danach jeweils die diplomatischen Beziehungen zu diesen Staaten ab. Eine umgekehrte Reaktion erfuhr die Bundesregierung im Jahre 1965, nachdem sie diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen hatte und daraufhin eine Reihe arabischer Staaten den Abbruch ihrer Beziehungen zur Bundesrepublik verkündeten, jedoch nicht alle anschließend die DDR völkerrechtlich anerkannten. Infolge der allmählichen Anbahnung von Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten in den 1960er Jahren stellte die Bundesregierung die Anwendung der „Hallstein-Doktrin" zusehends selbst in Frage. Mit der De-facto-Anerkennung der DDR durch Bundeskanzler Brandt im Oktober 1969 und der Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur vertraglichen Regelung der Beziehungen, die 1972 zum Grundlagenvertrag führten, wurde die „Hallstein-Doktrin" praktisch aufgegeben.
Text von Hanns Jürgen Küsters
Literaturhinweise
Grewe, Wilhelm G.: Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960, S. 138-154.
Kilian, Werner: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955-1973. Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien, Berlin 2001.
Link: Kühlem, Kordula: 22. September 1955: Regierungserklärung Konrad Adenauers - Geburtsstunde der Hallstein-Doktrin.2980905