EU-Binnenmigration und Wanderungsmotive

28.10.2015

In der EU besteht ein Grundrecht auf Binnenmigration. Welche Auswirkungen dies mit sich bringt, diskutieren Marianne Haase und Jan C. Jugl.

Was ist Binnenmigration?

Unter Binnenmigration wird die dauerhafte Wanderung von Menschen innerhalb der Grenzen eines festgelegten geographischen Raumes verstanden. EU-Binnenmigration äußert sich daher in Wanderungsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wobei Umzugsformen innerhalb einzelner Länder nicht berücksichtigt werden. Typische EU-Binnenmigrantinnen und -migranten sind zum Beispiel Erwerbstätige oder Studierende, die ihren Lebensmittelpunkt zumindest vorübergehend in einen anderen EU-Staat verlegen. Binnenmigration als freier Personenverkehr ist ein Grundpfeiler des europäischen Binnenraums und dabei inzwischen sogar als ein Grundrecht der Unionsbürger durch Art. 40 der Grundrechtecharta sowie Art. 18 des EG-Vertrags verbrieft.

Für die EU-Binnenmigration gilt in allen Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichberechtigung bei der Arbeitssuche und jener der Gleichbehandlung des Arbeitnehmers. Das heißt, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger in einem Mitgliedstaat unter den gleichen Bedingungen wie Einheimische Beschäftigungsverhältnisse aufnehmen dürfen. Für europäische Wanderarbeitnehmer gelten die gleichen Arbeitsbedingungen wie für einheimische Arbeitnehmer einschließlich steuerlicher und finanzieller Vergünstigungen.

Warum wird gewandert?

Die wichtigste Form der EU-Binnenmigration sind Arbeitskräftewanderungen. Die Motive für eine (Aus-)Wanderungsentscheidung in ein anderes Land unterscheidet man in sog. Push- und Pull-Faktoren, die im Wesentlichen aus wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Bedingungen in den Herkunfts- und Zielstaaten bestehen. Pushfaktoren bezeichnen die in den Herkunftsstaaten liegenden Gründe, die Menschen dazu veranlassen, auszuwandern. Pull-Faktoren sind in den Zielländern zu verorten und lassen eine Immigration dorthin attraktiv erscheinen, wie z.B. hohe Einkommen bei hohen Beschäftigungschancen im Zielland. Push-Faktoren können schlechte Beschäftigungsmöglichkeiten und niedrige Löhne im Herkunftsland sein, und bei Flucht- und Asylmigration politische bzw. andere Formen von Verfolgung oder Bürgerkriege.

Durch den gemeinsamen Binnenmarkt ist mittlerweile ein Angleichungsprozess der Wirtschaftssysteme der europäischen Mitgliedstaaten feststellbar, der langfristig auch die Relation von Push- und Pullfaktoren verändert. Wirtschaftliche Ungleichgewichte sind (mit Ausnahme der neuen Mitgliedstaaten) inzwischen innerhalb einzelner EU-Länder höher als zwischen ihren Binnengrenzen. Aus diesem Grund wird eine durch höhere Einkommen motivierte Binnenmigration auf lange Sicht eine immer geringere Rolle spielen. Ändern könnte sich dies, wenn mit Ablauf der voraussichtlich noch bis zum Jahr 2011 (bzw. 2013) bestehenden Übergangsfristen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den mittel- bzw. osteuropäischen EU-Ländern in Kraft treten wird, da sich deren Wirtschaftssysteme bis dahin wahrscheinlich noch nicht an das Niveau der EU-15 angeglichen haben werden. Entsprechende Studien und zwischenzeitlich gesammelte Erfahrungen mit Migration aus den mittel- und osteuropäischen Staaten legen den Schluss nahe, dass auch nach Ablauf der in vielen EU-15-Staaten geltenden Übergangsregelungen nicht mit Massenzuwanderung zu rechnen sein wird. Nähere Informationen zum Thema Migration und Osterweiterung finden Sie im entsprechenden Kapitel dieses Dossiers.

Historische und rechtliche Grundlagen von EU-Binnenmigration 

Aus der so genannten Montanunion, auch "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl", kurz EGKS genannt, ging 1957 mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als ein erster Vorläufer der heutigen EU hervor. Ziel der sechs Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden war es, eine Zollunion zu gründen und einen gemeinsamen Markt mit freiem Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu errichten. Zur Umsetzung dieser Ziele vereinbarten die damaligen Mitgliedstaaten Übergangsfristen, an deren Ende Zölle und Handelsbarrieren zwischen den Unterzeichnerstaaten fielen. Mit der Vollendung der Zollunion im Jahr 1968 trat erstmals auch die Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und -nehmer in Kraft, die seit 1973 auch für die späteren Beitrittsländer ("Norderweiterung") Großbritannien, Irland und Dänemark gilt. Seit 1987 verfügen auch Griechen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit, nach einer Übergangsfrist nach der Süderweiterung gilt sie seit 1992 ferner für portugiesische und spanische Erwerbstätige.

Übergangsfristen für Arbeitnehmerfreizügigkeit?

Bei der Erweiterungsrunde der EU um die Staaten Österreich, Schweden und Finnland im Jahr 1995 verzichtete man auf Übergangsfristen. Ein Grund dafür war, dass sich die Befürchtungen einiger wirtschaftlich hoch entwickelter Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich als falsch herausgestellt hatten, die Erweiterungen um die südlichen Staaten (Italien, Griechenland und Portugal) könnten zu größeren Binnenwanderungen führen. Hinzu kam, dass die Volkswirtschaften Österreichs, Schwedens und Finnlands in ihrer Leistungsfähigkeit ohnehin denen der EU-Mitgliedstaaten ähnlich waren. Wie im Beitrag zur Osterweiterung in diesem Dossier nachlesbar ist, sind die 2004 bzw. 2007 beigetretenen zwölf neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Mitteleuropa teilweise einer maximal siebenjährigen Übergangsfrist unterworfen. Die beiden südeuropäischen Staaten Malta und Zypern konnten von der Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort profitieren. Auch für Rumänien und Bulgarien, die beide im Jahr 2007 beitraten, gelten – bis längstens 2013 – die Übergangsfristen.

Das Recht EU-Angehöriger auf Einreise, Aufenthalt und Niederlassung

EU-Bürgerinnen und -Bürger haben das Recht, sich für bis zu drei Monate in einem beliebigen Mitgliedstaat aufzuhalten. Erst für einen längeren Aufenthalt ist eine Aufenthaltserlaubnis des entsprechenden Landes erforderlich. Die zur Bewilligung eines solchen Dokuments notwendigen Voraussetzungen hängen ganz wesentlich von dem Zweck des Aufenthalts ab. Maßgeblich für die Erteilung einer längerfristigen Aufenthaltserlaubnis ist daher das Aufenthaltsmotiv, also besonders die Frage, ob es sich bei den Antragstellenden um Arbeitnehmer, Selbstständige, Studierende, Rentner oder Familienangehörige handelt.

Je nach Aufenthaltsmotiv gibt es zurzeit verschiedene Regelungen für diese Gruppen, wobei abweichende Regelungen für Personen aus den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten gelten:

Angestellte und Selbstständige: Wer als Angestellter oder Selbstständiger im EU-Ausland arbeiten möchte, braucht hierfür lediglich seinen Ausweis und den Nachweis, dass im Zielland bereits ein Arbeitsvertrag bzw. eine Selbständigkeit besteht.

Studierende und Nichterwerbspersonen: Studierende müssen nachweisen, dass ihr Lebensunterhalt finanziell gesichert ist, sodass sie keine sozialen Sicherungssysteme des Gastlandes beanspruchen. Zusätzlich müssen sie eine Krankenversicherung haben. Ähnliches gilt für Personen, die sich längerfristig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, dort aber nicht arbeiten wollen.

Familienangehörige: Familienangehörige von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dürfen in ein Gastland miteinreisen und sich dort aufhalten, insbesondere wenn es sich um Ehepartner, um maximal 21-jährige Kinder oder um Eltern handelt, die von ihren Kindern Unterhalt beziehen.

Maßnahmen, Barrieren und eine Richtlinie zur Arbeitnehmerfreizügigkeit 

Zur Unterstützung der Freizügigkeit von Arbeitskräften richtete der Rat der Europäischen Union 1993 ein Informationssystem zu Fragen der Beschäftigung und der Arbeitskräftemobilität EURES (European Employment Services) ein. Es handelt es sich um einen internetbasierten Beratungs- und Informationsdienst für Arbeitsuchende und Arbeitgeber, der Informationen über offene Stellen, regionale Arbeitsmärkte und vor Ort herrschende Lebens- und Arbeitsbedingungen vermittelt. Partner des Netzwerkes sind die Arbeitsverwaltungen der Mitgliedstaaten sowie von Norwegen, Liechtenstein, der Schweiz und Island. Trotzdem bestehen nach wie vor Hindernisse, die in der Praxis zu einer vergleichsweise geringen Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch EU-Bürgerinnen und -bürger führen: Vielfach fehlen Auswanderungsinteressierten genaue Informationen, etwa über die ihnen und ihren Familienangehörigen zustehenden Rechte auf dem Arbeitsmarkt. Unklar sind häufig auch der genaue Ablauf und die Dauer von Verwaltungsakten bei der Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen.

Das bestehende System der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat sich im Laufe der Jahre als sehr unübersichtlich, komplex und daher wenig attraktiv herausgestellt. In den EU-Ländern bestanden nationale Verordnungen und Gesetze, die zum Teil wenig aufeinander abgestimmt waren. Im April 2004 verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union daher die Richtlinie 2004/38/EG, die Verfahren für die Einreise und den Aufenthalt von EU-Angehörigen und deren Familienmitglieder einfacher und transparenter regeln soll. Mit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2006 wurde eine Reihe älterer Rechtsakte außer Kraft gesetzt und in modifizierter Form zusammengeführt.

Richtlinie zum Aufenthalt von EU-Angehörigen und deren Familien

Die Richtlinie für Einreise- und Aufenthaltsverfahren von EU-Angehörigen und Familienmitgliedern enthält folgende Elemente:

Für Aufenthalte von weniger als drei Monaten soll auch weiterhin das Mitführen gültiger Ausweispapiere genügen.

Für einen mehr als dreimonatigen Aufenthalt entfällt das Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis. Stattdessen genügt ein Eintrag in das Wohnortregister, der ausgestellt wird, sobald Beschäftigte einen Arbeitsvertrag vorlegen oder Selbstständige Nachweise über ihre Tätigkeit erbringen. Studierende und Nichterwerbstätige müssen neben dem Bestehen einer Krankenversicherung lediglich nachweisen, dass sie den Lebensunterhalt für sich (und ggf. ihre Angehörigen) bestreiten können, ohne die sozialen Sicherungssysteme des Gastlandes zu beanspruchen.

Nach einem ständigen Aufenthalt von fünf Jahren müssen EU-Bürgerinnen und -Bürger den Staatsbürgern des Ziellandes gleichgestellt werden und dürfen sich dauerhaft niederlassen. Alle Einschränkungen, etwa im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, entfallen entsprechend.

Zur Erhöhung der Rechtssicherheit von EU-Angehörigen in anderen Mitgliedstaaten sollen bestehende Möglichkeiten der Aufenthaltsbegrenzung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und/oder der Sicherheit überprüft werden. Auch Minderjährige und sich längerfristig aufhaltende Personen sollen gegen eine Ausweisung besser geschützt werden.

Die Dienstleistungsrichtlinie 

Der europäische Binnenmarkt im Bereich der Dienstleistungen war durch eine Reihe von Beschränkungen behindert. Dazu zählten etwa Bestimmungen zum Schutz innerstaatlicher Anbieter von Dienstleistungen. Diese Schutznormen, die unter anderem aus der Sorge um Sozial- und Lohndumping entstanden waren, verhinderten den freien Zugang von europäischen Dienstleistungserbringern zu den Märkten der EU-Mitgliedstaaten. Die so genannte Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) – bekannt geworden auch nach dem damaligen Binnenmarktskommissar als Bolkestein-Richtlinie – sollte den europäischen Binnenmarkt vervollständigen. Mit ihr sollte die Dienstleistungsfreizügigkeit in der EU von solchen nationalen Schutzmaßnahmen "befreit" werden.

Ausgehend von dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag (KOM (2004) 002 endg.) kam es zu heftigen Kontroversen um die Richtlinie. Die Sorge um Sozial- und Lohndumping sowie einen Wettbewerb um die niedrigsten Sicherheits- bzw. Qualitätsstandards bestimmten die Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang ist der zum Schlagwort gewordene "polnische Fliesenleger" zu erwähnen. Dieser, so die diffamierende Aussage, verkörpere verfallende Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen von Dienstleistungen.

Insbesondere Kritiker der "neoliberalen Globalisierung" wandten sich gegen den ersten Entwurf der Richtlinie. Auch das Europäische Parlament votierte dagegen, sodass die Kommission im weiteren Verlauf der Gesetzgebung einen geänderten Richtlinienvorschlag einbrachte. Dieser entschärfte die wesentlichen Streitpunkte.

Im Dezember 2006 verabschiedete der Rat die Richtlinie, deren Umsetzung in den Mitgliedstaaten bis Ende 2009 erfolgt sein muss. Ihr wesentlicher Inhalt ist, dass jeder, der in seinem europäischen Herkunftsland ein Gewerbe ausübt, diese Dienstleistung auch in den anderen Mitgliedstaaten anbieten darf. Entgegen dem ersten Entwurf der Richtlinie gelten dabei die Bestimmungen desjenigen Landes, in dem die Dienstleistung angeboten wird. Dies gilt etwa für Mindestlöhne, Tarifvertragsregelungen, Arbeitszeitbestimmungen oder Bauvorschriften. Die Richtlinie sieht Ausnahmeregelungen vor, wonach Bereiche wie das Gesundheitswesen oder soziale Dienste von den grundsätzlichen Bestimmungen der Richtlinie ausgenommen sind.

 

Text: www.bpb.de, by-nc-nd/3.0/de