Partizipation und europäische Öffentlichkeit

Warum er das Partizipationsproblem der EU vor allem für ein Öffentlichkeitsproblem hält, erklärt Wulf Loh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart, in seinem Debattenbeitrag.
 
Betrachtet man die Möglichkeiten und Herausforderungen, die für eine Vertiefung der Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene bestehen, so taucht in diesen Debatten fast mantraartig das Schlagwort des „Demokratiedefizits der EU" auf: Die europäischen Institutionen sind zutiefst undemokratisch, daher ist eine echte Bürgerbeteiligung gar nicht möglich, sagen die einen. Es gibt keine wirkliche Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene, deshalb ist die EU undemokratisch, sagen die anderen. In einem Fall ist eine als mangelhaft wahrgenommene Partizipation das Ergebnis, im anderen ist sie die Ursache des Problems.
 

Demokratische Institutionalisierung in der EU

Betrachtet man den ersten Vorwurf, so stimmt es natürlich, dass die EU nicht in dem gleichen Maße und auf die gleiche Weise demokratische Strukturen institutionalisiert hat wie ihre Mitgliedsstaaten. Das fängt beim europäischen Wahlrecht an, das nicht alle Stimmen gleich gewichtet (degressive Proportionalität) und geht bei der Tatsache, dass die Zusammenkünfte der nationalen Regierungsvertreter (Ministerrat, Europäischer Rat) nach wie vor maßgeblich die europäische Politik vorgeben und viele grundlegenden Entscheidungen treffen, weiter. Auf der anderen Seite hat bisher jede Vertragsreform eine Stärkung des EU-Parlaments mit sich gebracht, so dass dieses Jahr z.B. zum ersten Mal bei der Besetzung des Kommissionspräsidenten (Vorsitz der EU-Exekutive) die Europawahlen explizit „berücksichtigt" werden müssen und der vom Europäischen Rat vorgeschlagene Kandidat auch vom EP gewählt werden muss. Über die Europawahlen können also zum ersten Mal die Wahlberechtigten den Kommissionspräsidenten „mitbestimmen", nachdem die großen europäischen Parteien Spitzenkandidaten vorgestellt haben, die um den Posten des Kommissionspräsidenten konkurrieren. Wie sehr sich der Europäische Rat davon beeindrucken lässt, bleibt abzuwarten, aber man darf verhalten optimistisch sein, dass sich dieser Demokratisierungstrend fortsetzen wird und auch zukünftige Vertragsreformen die Kompetenzen des Parlaments und damit auch die europäische Demokratie stärken werden.
 

Bürgerbeteiligung in der EU

Kommen wir zum zweiten Vorwurf, der mangelnden Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich an den politischen Entscheidungen in der EU zu beteiligen. Richtig ist, dass bspw. die durchschnittliche Wahlbeteiligung zum EP kontinuierlich rückgängig ist, dass das Interesse an europapolitischen Themen bestenfalls als schwankend eingeschätzt werden kann und dass für viele Bürgerinnen und Bürger die Arbeitsweise und die Verfahren der EU-Institutionen undurchsichtig erscheinen. Die EU wird – so die europaskeptische Sichtweise – als bürgerfern und elitär betrachtet, als bürokratisches Monster, dessen Entscheidungen sowieso folgenlos bleiben und das deshalb nur eine geringe Aufmerksamkeit verdient. Zum Glück ändert sich diese emotionale Gemengelage langsam, nicht zuletzt auch durch die Finanzkrise. Die Bürgerinnen und Bürger beginnen den Einfluss, den Entscheidungen auf europäischer Ebene haben, zu erkennen und sich für die Mechanismen zu interessieren, in dem Maße, in dem auch die Themen mehr und mehr in ihre eigene Lebenswelt eingreifen und in ihrem Alltag spürbar werden.
 

Das Öffentlichkeitsproblem der EU

Dennoch, das lässt sich nicht wegdiskutieren, hat die EU – gerade auch durch die Finanzkrise – ein Imageproblem, das sich auch als Partizipationsproblem niederschlägt. Meiner Meinung nach ist es aber vor allem ein Öffentlichkeitsproblem: Es gibt nach wie vor kaum ernstzunehmende europäische Medien, die als „vierte Gewalt" einerseits die EU-Bürokratie im Auge behalten, andererseits die Bürgerinnen und Bürger über die politischen Auseinandersetzungen und Prozesse auf EU-Ebene aufklären könnten. Sicher, die nationalen Medien berichten zunehmend über europapolitische Themen, nachdem diese immer mehr Einfluss auf die nationale Politikgestaltung nehmen. Aber gleichzeitig findet diese Berichterstattung immer noch zu sehr in nationalen Kontexten statt. Eindrucksvoll lässt sich das anhand des medialen Umgangs mit der Finanzkrise, insbesondere der deutschen Medien mit Griechenland, zeigen, ist aber auch auf die nationalen Medien anderer Länder übertragbar. Die Finanzkrise erzeugte so etwas wie einen „nationalen Reflex", sie primär als griechische, spanische, irische usw. Krise zu behandeln – so titelte bspw. die Bild-Zeitung: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!". Die medialen, aber auch politischen Reaktionen darauf betonten vor allem die Vorteile, die Deutschland als Exportland aus dem europäischen Wirtschaftsraum zieht (Angela Merkel sprach gar von „Alternativlosigkeit"). In beiden Fällen wurde die Finanzkrise nicht primär als europäisches Problem, sondern als deutsches Problem wahrgenommen und die für Deutschland günstigste Strategie erörtert (Verbleib im Binnenmarkt vs. Milliardenhaftung).
 

Solidarität vs. Nationalität?

Auf diese Weise werden europäische Problematiken einem nationalen „Framing" unterworfen. Anstatt eine europäische Öffentlichkeit hervorzubringen, spielen die nationalen Medien eher einzelne EU-Mitgliedsstaaten gegeneinander aus. Eine europäische Solidargemeinschaft kann so kaum entstehen. Daher ist es auch nur bis zu einem gewissen Grad hilfreich, wenn Europapolitik in den nationalen Medien stärker zur Geltung kommt. Der Blick durch die primär nationale Brille lässt sich so jedenfalls nicht grundsätzlich überwinden. Wichtig wäre es darüber hinaus, dass nicht nur die Europapolitik größeren Anteil an der täglichen Informationsstruktur der nationalen Medien bekäme, sondern ein Nachrichtenblock für wichtige Geschehnisse in Europa überhaupt reserviert würde. Die bisherigen Versuche, gerade auch von Sendern wie bspw. „euronews" und „arte", sind noch viel zu tentativ, um wirklich eine Entwicklung hin zu einem „europäischen Bewusstsein" in Gang zu setzen. Nur darüber lässt sich aber nach meinem Dafürhalten eine substanzielle europäische Öffentlichkeit herstellen, die letztlich auch die Problematik eines Demokratiedefizits als Partizipationsdefizit überwinden kann.
 
 
Autor: Wulf Loh