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Europa, brauchst du Referenden?
Ohne EU-Gemeinschaftsgefühl würden Referenden keinen Sinn machen, sagt JEF- Bundesvorsitzender David Schrock. Durch EU-Referenden könne jedoch erst eine europäische Öffentlichkeit entstehen, meint hingegen Politikwissenschaftler Sebastian Berg. Wer von beiden hat Recht?
Demokratisierung ist ein großes Wort. Europa ist eine große Weltregion. Aber der wahlberechtigte EU-Mitbürger wohnt nebenan, und in den Urlaub fahren wir nach Frankreich. Nähe und Ferne zugleich kennzeichnen die EU. Forderungen werden laut, der Seiltanz zwischen rhetorischer Volksnähe und Bürgerferne bei Entscheidungen müsste einer vertieften Demokratisierung weichen. Sind EU-weite Referenden ein probates Mittel? „Ich kann mir vorstellen, dass sie die politische Zufriedenheit und die Glaubwürdigkeit der EU erhöhen", sagt Sebastian Berg. Der 51-Jährige erforscht die Gesellschaft, Geschichte und Politik englischsprachiger Gesellschaften. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf den Aktivitäten sozialer Bewegungen. „Sie bieten eine Chance, dass über Europa geredet wird", sagt er weiter. Zwar seien Referenden in Zeiten meinungsmächtiger Medien nicht unproblematisch, dennoch: „Wenn die EU ernst genommen werden will, dann muss sie sich demokratisieren. Referenden könnten ein Beitrag dazu sein."
Unterschätzen wir die Bevölkerung?
David Schrock, Bundesvorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), stimmt zu: „Es gibt Fragestellungen, zu denen man das Volk befragen kann. Komplexe Fragestellungen sind dafür aber nicht geeignet." Der Bau eines neuen Schwimmbads? Die Abschaffung der Hauptschule? Wehrpflicht? Den Griechen die Schulden erlassen? Fragen, die man der Bevölkerung von der Kommunal-, bis zur Europaebene stellen könnte.
„Die Fragestellung muss eine klare Ja-Nein-Perspektive haben", sagt Schrock. Schon der Soziologe Paul Lazarsfeld behauptete in den 40er Jahren, dass Themen für die Öffentlichkeit in einfachen Alternativen dargestellt werden müssten, um organisierte Aktionen der Öffentlichkeit möglich zu machen. Berg sieht das anders: „Wir dürfen die Bevölkerung nicht unterschätzen. Auch komplexere Sachverhalte können diskutiert werden." Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Bevölkerung nach anderen Maßstäben und mit anderem Hintergrundwissen urteilt.
In einer Studie des Statistikportals statista.com von 2016 wurden politische Entscheider aus Politik und Wirtschaft sowie Bundesbürger zur Risikoeinschätzung von Gefahren befragt. Wie groß ist das Risiko für Bundesbürger durch Terror, Inflation oder ansteckende Krankheiten? Das Ergebnis: Die Risikowahrnehmungen der befragten Gruppen gehen weit auseinander. So stuften beispielsweise 14 Prozent der Entscheider Arbeitslosigkeit als großes Risiko für die Menschen in Deutschland ein, bei den Bundesbürgern waren es 62 Prozent. In Bezug auf Computerviren sah es umgekehrt aus: Die Entscheider fürchteten sie zu 59 Prozent als große Gefahr, in der Bevölkerung sahen das nur 35 Prozent genauso. Berg sagt dazu: „Der Charakter eines Referendums ist entscheidend. Es muss nicht bindend sein." Vielmehr könne es als Botschaft an politische Entscheidungsträger dienen, als eine Art nicht-bindender Meinungsspiegel.
Die Vor- und Nachteile, die Referenden bieten, unterscheiden sich nicht von viel diskutierten nationalen Volksentscheiden. „Ausnutzung für Populismus und Demagogie, wenn Argumente nicht innerhalb kürzester Zeit überprüfbar sind", fürchtet Schrock. Zwar sind Emotionen ein wichtiger Faktor für Authentizität und oftmals Ausgangspunkt für politisches Engagement – der Begriff „Wutbürger" impliziert jedoch blinde Bürger, die für rationale Argumente nicht mehr offen sind. Auch Berg räumt ein: „Die Öffentlichkeit ist als Entscheider natürlich ein Risiko. Politische Entscheidungsträger sind das aber auch." Großbritannien wird beispielsweise die EU verlassen – auch wenn John Poziemski, gebürtiger Schotte und Universitätslektor, sich das anders gewünscht hätte. „Ohne das Referendum hätten die gewählten Volksvertreter mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt", ist er sich sicher. Je wichtiger das Thema, desto wichtiger sei auch die politische Erfahrung, Bildung und Informationspolitik sowie das Bewusstsein über die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidungsoptionen.
Das fehlende europäische Gemeinschaftsgefühl
„Solange die Einzelnationalität eine Rolle spielt, und wir kein europäisches ‚Nationalgefühl‘ haben, machen EU-weite Referenden keinen Sinn", sagt Schrock. 28 Einzelreferenden anstatt ein EU-Referendum? „Vermutlich", sagt er. „Die Gefahr ist, dass die Bürger nicht aus europäischem Interesse, sondern aus subjektivem Interesse für ihre jeweiligen Nationen handeln." Schließlich spielten zum Beispiel bei der diesjährigen Europameisterschaft 24 nationale Mannschaften gegeneinander. Könnte ein europäisches Team das Gemeinschaftsgefühl stärken?
„Der Nationalstaat ist immer noch die wichtigste politische Entscheidungsebene", stellt Berg klar. Wer behaupte, es ginge nicht um Nationalstaaten und ihre Politik, der ziele an der Realität vorbei. Es sei ein anderer Wert, den die stark von Nationen geprägten europäischen Wahlkämpfe noch nicht zu transportieren vermochten: Solidarität. „Nur durch gestärkte Solidarität lässt sich eine europäische Öffentlichkeit herstellen", meint Berg und fügt hinzu: „Wir brauchen eine EU, die niemanden hängen lässt." In bestimmten Fragen mögen Nationalstaaten dabei übergangen werden, auf den Rahmen hat man sich jedoch vorher geeinigt.
Die EU demokratischer machen und Verantwortung schaffen
Referenden sind keine Patentlösung für ein demokratisches Defizit. Diese Patentlösung gibt es aber auch gar nicht. Eine Lösung besteht aus vielen einzelnen Schritten. „Um die EU demokratischer zu machen, brauchen wir transnationale Wahlkreise, zum Beispiel für das Elsass", sagt Schrock. Das lockere automatisch die nationale Bindung. „Ich wünsche mir zudem ein gebührenfinanziertes europäisches Rundfunkangebot in englischer Sprache", so Schrock weiter. Man werfe ihm oft vor, er trage eine deutsche Brille, er betone dennoch: „Unser personalisiertes Verhältniswahlrecht sollte zum Vorbild genommen werden. Es ist zentral, dass die Menschen jemanden direkt wählen können." Nicht nur das deutsche Wahlmodell, auch das fast in der ganzen EU verbreitete Zweikammersystem müsse in der EU Einzug halten. Was in Deutschland Bundestag und Bundesrat sind, entspricht in Großbritannien dem Oberhaus und Unterhaus, in Italien dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Für die EU heißt das: „Europäischer Rat und Ministerrat müssen zusammengeschmolzen werden", schlägt Schrock vor. Auch Berg hat einige Ideen: „Das EU-Parlament muss definitiv gestärkt werden." Das bedeute die Ausstattung mit mehr Gesetzgebungskompetenzen inklusive Initiativrecht. Das Wort Transparenz sei fehl am Platz, wehrt sich Schrock: „Kein Parlament der Welt ist so transparent wie das europäische." So bleibt es letztlich dabei: Wir sind die Bürger Europas. Auch formale und strukturelle Änderungen nehmen uns nicht die Pflicht, als solidarische Bürger eine kritische Öffentlichkeit zu ermöglichen.
Autorin: Marie Illner, Jugend-Online-Magazin f1rstlife.de
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