Eine Frage der Souveränität

Thesen zu Deutschlands Platz in der EU

Deutschland ist größter Mitgliedstaat der Europäischen Union, Frankreich eine Grande Nation, und Britain great, Amerika soll es nun wieder werden. Aber heisst groß auch stark, ist es gleichbedeutend mit souverän? Was ist der Maßstab? In der Europäischen Union verfallen wir oft dem Trugschluss, unsere Größe und Bedeutung im Vergleich zu den übrigen Mitgliedstaaten zu sehen. Vor den Sieben Bergen vergleicht sich die Dorfbevölkerung und die Größeren der Kleinen fühlen sich geschmeichelt. Aber hinter den Sieben Bergen geht die Welt bekanntlich weiter.

Während die 27 EU-Mitgliedstaaten im Jahre 1900 zusammen genommen noch ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachten, leben heute nur noch 6 Prozent in der Union. Wirtschaftlich ist Europas Gewicht zwar noch erheblich und entspricht 22 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Aber auch hier schrumpft unsere Bedeutung: seit 2004 allein um 4 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat China seinen Anteil von 5 auf 15 Prozent gesteigert. Hinzu kommt eine Überalterung in vielen Mitgliedstaaten, die unsere Zukunftsfähigkeit und die Nachhaltigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme in Frage stellt. Bis 2030 wird Europa einen Altersdurchschnitt von 45 Jahren verzeichnen, im Kontrast zu einem globalen Altersdurchschnitt von 33 Jahren. Good old Europe! 

Wie können wir dem globalen Druck Stand halten, wie uns wappnen auch angesichts rapider wirtschaftlicher Umwälzungen? 

Sicherlich nicht durch verklärte Rückbesinnung auf unsere nationale Souveränität. Selbst Deutschland als bevölkerungs- und wirtschaftsstärkstes Land Europas kann dem nicht gewachsen sein - auf diesen lange Zeit geltenden Konsens in unserer Bevölkerung und aller bisherigen Bundesregierungen, angefangen mit Konrad Adenauer, können wir stolz sein. Aber wie der Präsident des Europäischen Rates, Präsident Tusk in seinem Einladungsschreiben zum informellen Gipfel der 27 in La Valetta am 3. Februar 2017 ein Motto der Vereinigten Staaten sehr passend heranzog: "United we stand, divided we fall". Nur gemeinsam können wir Europäer unsere Souveränität erhalten oder hoffentlich teilweise zurückgewinnen. Nur vereint werden wir als Verhandlungspartner ernst genommen, bei der Gestaltung des Welthandels und der Regulierung der Finanzmärkte.

Das Referendum im Vereinigten Koenigreich hat die verlockende "Souveränitätsfalle" überdeutlich entlarvt: wer den Europäern verspricht, ihre nationale Souveränität zu restaurieren, beschert ihnen das Gegenteil. Mit dem Austritt aus der EU verliert Großbritannien sämtliche Mitsprache bei der EU-Gesetzgebung. Es steht lediglich noch vor der Wahl, diese ihm vorgegebenen Regeln weiterhin anzuwenden und auch einen signifikanten Beitrag zum EU-Haushalt zu leisten; oder sich völlig zu isolieren und abzuschotten, damit aber gleichzeitig den Zugang zum Binnenmarkt gänzlich zu verlieren.

Auch die Migrationskrise hat uns schmerzhaft spüren lassen, dass wir handlungsunfähig und überfordert sind, wenn wir nicht gemeinsam handeln. Jahrelang wurden gemeinsame europäische Ansätze in diesem Bereich blockiert, in der wenig solidarischen wie leider auch naiven Annahme, Migration beträfe allein Länder an der EU-Außengrenze. Erst der sichtbare Kontrollverlust hat dazu geführt, dass nun unter großen Anstrengungen Versäumtes nachgeholt wird. Nicht Europa schaffte diese Krise. Ursache war vielmehr der Verzicht auf einen gemeinsamen, europäischen Ansatz aufgrund nationaler Egoismen und Kurzsichtigkeit.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage des Umbaus unserer Wirtschafts- und Währungsunion zu sehen. Auch hier geht es letztendlich um unsere Behauptung in der globalisierten Welt, um Stabilität und unser Gewicht auf internationaler Ebene. In der Diskussion über die Zukunft unserer Währungsunion muss jedoch der zweite nach dem ersten Schritt getan werden. Zunächst ist Konsens in der Frage herzustellen, dass eine Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Waehrungsunion notwendig ist. Einige Vorstöße schienen dies blind vorauszusetzen, und liefen klar ins Leere. Als Reaktion auf die Krise haben wir unser Regelwerk und Instrumentarium rasch gestärkt, eilig das erschütterte Haus stabilisiert. Aber fühlen wir uns gefeit vor weiteren Erschütterungen? Werden uns die bestehenden Regeln und Mechanismen auch die nächsten Jahrzehnte meistern lassen? Werden wir unsere fiskalische Souveränität zurückgewinnen, auch durch den Abbau der drückenden Schuldenlast?

Ist die Frage nach dem "ob" beantwortet, stehen wir vor der Herausforderung, welche Schrittfolge wir wählen, welchen Bauplan wir dem Ausbau und der Stabilisierung unseres gemeinsamen Hauses zu Grunde legen. Die Vollendung der Bankenunion ist der erste Schritt. Konkrete Gesetzgebungsvorschläge zur Risikoreduzierung im Bankenwesen und zur Einlagensicherung liegen auf dem Tisch und harren der Gestaltung durch die beiden Gesetzgeber, das Europäische Parlament und den Rat. Verbunden mit der Diskussion ueber einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen stellt sich die Frage, wie Programme und Finanzmittel des EU-Haushaltes besser genutzt und in das Europäische Semester eingepasst werden koennen, um Reformanreize zu setzen. Verschiedene Entwürfe werden ferner diskutiert zu einem Stabiliserungsinstrument für den Euroraum, welches vor allem Investitionen absichern könnte. Auch wird sich die Frage der Risikobewertung von staatlichen Anleihen stellen, um die gefährliche Verquickung zwischen Mitgliedstaaten und ihrem Bankensektor anzugehen und Fehlanreize zu vermeiden.

Dabei gilt das älteste Prinzip unserer Integration: Alle müssen sich wiederfinden, es gibt keine "Entweder-oder"-Formeln. Vielmehr muss jeder Schritt zu mehr Solidarität (oder auch Risikoteilung) mit einer Stärkung der Eigenverantwortung (Risikoreduzierung) einhergehen. Die Kunst der Architektur und Bauplanung besteht dann darin, die Entscheidung über die Bauschritte im Paket zu treffen, auch wenn die einzelnen Bauabschnitte nacheinander von Statten gehen.

Autor: Kai Wynands ist Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und Kabinettschef von Valdis Dombrovskis, Vize-Präsident der Kommission und Kommissar für den Euro und den sozialen Dialog. Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt der Europäischen Kommission.

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